Liebe Katharina Wagner, ich wage nicht, mir auszumalen, unter welchem Druck Sie stehen. Jeder Dirigent, jeder Regisseur, jede Sängerin und jeder Sänger stellt sich auf dem Grünen Hügel nicht nur einem ganz normalen Opernpublikum plus Weltpresse und jeder Menge Prominenz, sondern auch einer Meute orthodoxer Traditionalisten, ja Fundamentalisten, die jede Zeile in Richard Wagners Werk kennen. Oder zu kennen glauben. Und die deshalb auch ganz genau wissen, wie was gemacht werden muss.
Die geraten schon aus der Fassung, wenn die Banausen im Saal nach dem ersten Aufzug „Parsifal“ klatschen (was man nicht tut), oder wenn, schlimmer noch, im zweiten Akt der Speer des Amfortas nicht schwebt, wie er sollte. Bitter genug, dass zum Schluss dieser Oper über Glauben, Schuld und Erlösung seit Jahrzehnten schon keine Taube mehr am Theaterhimmel erscheint.
Sie aber bekommen solchen Zorn vermutlich noch mal konzentriert ab, schließlich sind Sie, Urenkelin Richard Wagners, seit 2015 alleinige Chefin der gleichnamigen Festspiele in Bayreuth und damit schon von Geburt und von Amts wegen zur Zielscheibe prädestiniert.
Schließlich haben Sie so unmögliche Personen wie diesen Frank Castorf engagiert, den „Ring des Nibelungen“ zu inszenieren, in dem Krokodile über den Alexanderplatz spazieren und Siegfried den Fafner nicht mit dem Schwert, sondern mit der Kalaschnikow umlegt. Schließlich inszenieren Sie auch noch selbst und brechen dabei ihrerseits ein Tabu nach dem anderen. Etwa, indem Sie Isolde am Ende des „Tristan“ den Liebestod verweigern und sie auf Gedeih und Verderb ihrem bösen Ehemann Marke ausliefern.
Ein extrem beklemmender Schluss, der viel aussagt über das, was Frauen widerfahren kann. Und über Ihren Willen, derlei ebenso zu thematisieren wie die vielfache, frühzeitige, überzeugte und aktive Mitwirkung der damals stramm antisemitisch gesinnten Familie Wagner im Nationalsozialismus.
Das ist vermutlich die beste Art, mit der Last der Abstammung umzugehen – der Wagner-Clan gilt ja nicht gerade als liebevolle Bilderbuchfamilie. Außerdem steht Bayreuth grundsätzlich für Skandale jedweder Art, und wenn es einmal ein Jahr ohne Skandal gibt, wie dieses zum Beispiel, dann riecht das auch schon wieder verdächtig nach Skandal.
Und natürlich gehören auch die Buhs untrennbar zu Bayreuth. Wie das Umziehen auf dem Parkplatz, wie das Pausenpicknick auf der Wiese, wie das Promigucken an der Auffahrt. Bekäme ein Regisseur nach der Premiere kein einziges Buh ab, müsste er schonungslos analysieren, was er falsch gemacht hat.
So richtig ab ging es, als 1976 der – inzwischen legendäre – „Ring“ in der Regie des französischen Theatergenies Patrice Chéreau herauskam, dem Jahr übrigens, als Ihr Herr Vater, Wolfgang Wagner, in zweiter Ehe seine langjährige Mitarbeiterin Gudrun Mack, Ihre nachmalige Frau Mutter, heiratete und damit „den Familien-Clan wieder tödlich verfeindet“ hat, wie damals der „Spiegel“ schrieb. Und weiter: „Letzte Woche wurde der Bayreuther Wagner-Tempel tatsächlich zum Tollhaus, die Festspielgemeinde zum grölenden Mob. Schrill wie nie zuvor geiferten auf dem Grünen Hügel alte Kameraden und junge Pilger, Deutsche, Amerikaner und Franzosen unisono gegen Bayreuths Jubiläumsgabe.“ Ein erboster Wagnerianer wurde sogar handgreiflich und zerriss Gudrun Wagner das Abendkleid.
Das wissen Sie natürlich alles. Aber man muss das schon aushalten können. In Bayreuth ist alles Geschichte, alles Mythos, alles Kult. Wer vor der Marmortafel hinter dem Königsportal steht, auf der in goldenen Lettern all die aufgeführt sind, die damals 1876 die (in Richard Wagners Augen übrigens ziemlich verunglückte) Uraufführung des „Ring“ stemmten, den weht schon so etwas wie ein Hauch Ehrfurcht an.
Als Sie 2008, nach jahrelangen Querelen, Machtkämpfen und Spekulationen, zunächst noch zusammen mit Ihrer Halbschwester Eva Wagner-Pasquier die Leitung der Festspiele übernahmen, schwang in vielen Kommentaren die bange Frage mit, „kann die das denn?“ Klar: Frau, jung, blond, attraktiv, wie soll die was können?
Offensichtlich können Sie was, denn was in Bayreuth zu sehen und zu hören ist, das ist Weltklasse. Ich habe jede Inszenierung gesehen, die derzeit läuft, und ich habe Ihre allererste und Ihre jüngste Inszenierung gesehen – „Holländer“ in Würzburg 2002 und eben „Tristan“ in Bayreuth. „Holländer“ fand ich richtig gut, „Tristan“ nachgerade großartig. Diesen Schluss muss man sich erst mal trauen.
Falls Sie vorhaben, so weiterzumachen – ich freue mich drauf! Und ich bin optimistisch. Denn der „Welt“ haben Sie einen wohltuend unbeeindruckten Satz gesagt: „Wenn Übermenschliches erwartet wird, kann ich das ja sowieso nicht erfüllen. Wir sind alle nur Menschen.“