- Was ist das für ein Stück? "Der Arme Matrose" des Mainfranken Theaters ist keine abgefilmte Vorstellung, sondern ein vollwertiger Film. Den Kern bildet eine Kurzoper von Darius Milhaud (1892-1974), ergänzt um Szenen mit Musik von Ludwig van Beethoven, Franz Schubert und Dmitri Schostakowitsch.
- Worum geht's? Es geht um Habgier und Misstrauen, vor allem aber um unterschiedliche Vorstellungen von Liebe. Das Stück ist düster und tragisch – idealer Opernstoff also.
- Was ist daran besonders? Es ist gelungen, ein echtes, eigenes Format zu entwickeln, irgendwo zwischen großem Kino und Videoclip. Ein spannender Kontrast zu den konventionellen Streams anderer Opernhäuer während der Pandemie.
- Wo kann ich das sehen? "Der Arme Matrose" kann – vorerst – noch bis Sonntag, 16. Mai, 20 Uhr, kostenlos im Netz unter www.mainfrankentheater.de/matrose angeschaut werden. Termine und Art weiterer Vorführungen stehen noch nicht fest.
In der Oper (und meistens auch im Leben) geht es schief, wenn Liebende einander auf die Probe stellen. Das weiß man nicht erst seit Mozarts "Così fan tutte". In "Der arme Matrose" endet die Sache tödlich: Der Matrose taucht nach 15 Jahren plötzlich in der Bar auf, die seine Frau und ihr Vater führen. Er ist gezeichnet von den Strapazen, aber im Besitz einer kostbaren Perlenkette. Er gibt sich als Freund des Mannes aus, der zwar am Leben, aber in Schwierigkeiten sei. Er bekommt Unterschlupf, nachts erschlägt die Frau den vorgeblichen Fremden, um mit der Kette ihren Mann zu retten.
Warum der Matrose sich nicht zu erkennen gibt, warum die Frau ihn nicht trotzdem erkennt, oder vielleicht doch – das wird nicht so richtig klar. Es passt aber in diese düstere Welt der unerfüllten Sehnsüchte, die vor allem mit der pointiert sperrigen Musik von Milhaud verbunden ist. Die Momente der Hoffnung finden zu Passagen aus Beethovens "Fidelio" statt. Lieder aus Schuberts "Winterreise" wiederum bilden die Gedanken des Matrosen ab.
Gegenwart, Traumsequenzen und Rückblenden überlagern sich – immer schlüssig und immer wieder überraschend
Tomo Sugao (Regie) und Paul Zoller (Bühne und Kostüme) haben die Bühnenfassung nach dem Konzept von Operndirektor Berthold Warnecke in ein Drehbuch umgewandelt, der Würzburger Filmkünstler Steffen Boseckert (mindcore productions) setzte es mit Kamera und Schnitt um. Herausgekommen sind gut 70 beklemmend intensive Minuten komprimierte Oper im Cinemascope-Format, in denen sich Gegenwart, Traumsequenzen und Rückblenden überlagern – immer schlüssig und immer wieder überraschend.
Die Netzpremiere dieses ersten digitalen Projekts des Mainfranken Theaters wurde flankiert von digitalen Vor- und Nachgesprächen in Zusammenarbeit mit der Fakultät Informatik und Wirtschaftsinformatik der Hochschule für angewandte Wissenschaften Würzburg-Schweinfurt. Per 360-Grad-Kamera konnte das Publikum aktiv dabei sein. Regisseur Tomo Sugao, zugeschaltet aus Honkong, bewegte sich per Roboter virtuell durch den Raum, erste Manövrierunsicherheiten kommentierte Generalmusikdirektor Enrico Calesso trocken mit "gut, dass Du Regisseur bist und nicht Busfahrer".
Erst zum Schluss enthüllt sich das eigentliche Thema: Es geht um die Einsamkeit
Tatsächlich ist es Sugao und Boseckert gelungen, das kleine Ensemble mit Roberto Ortiz (Matrose, Florestan, Tenor), Silke Evers (seine Frau, Leonore, Sopran) Kosma Ranuer (ein Freund, Pizzarro, Bassbariton) und Igor Tsarkov (ihr Vater, Rocco, Bass) optimal durch das Stück zu manövrieren. Tomo Sugao schätzt immer schon die Spielfreudigkeit des Würzburger Musiktheaterensembles, hier setzt er es sozusagen aus der Nähe ein.
Besonders Silke Evers findet augenblicklich ihre Beziehung zur Kamera – die Sehnsucht ihrer Figur nach Glamour, ihre Verschlagenheit und vielleicht doch auch echte Liebe sind wirklich großes Kino. Roberto Ortiz' Matrose ist ein gebrochener Mann, der er es dennoch nicht lassen kann, sein Schicksal ein letztes Mal herauszufordern. Kosma Ranuer als intriganter Freund ist besonders in seiner Wut beeindruckend, sein Blutrausch zu Schuberts Lied "Gruppe aus dem Tartarus" gewaltig. Etwas blass bleibt Igor Tsarkov als grämlich-lüsterner Vater.
Erst zum Schluss enthüllt sich das eigentliche Thema. Während Frau und Vater die Leiche des Matrosen wegschleppen, singt dieser aus der "Winterreise": "Fremd bin ich eingezogen, fremd zieh ich wieder aus." Mehr Einsamkeit geht nicht.