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Schweinfurt
Schweinfurt feiert die Erfindung des Horrorfilms – 4 Dinge, die Sie noch nicht über den Expressionismus wussten
Das Museum Georg Schäfer stellt erstmals in Deutschland expressionistische Malerei und frühen Stummfilm direkt einander gegenüber. Die Effekte sind mehr als überraschend.
Die Mutter aller Horrorfilme: Szenenfoto aus 'Nosferatu, eine Symphonie des Grauens' (1921).
Foto: Courtesy of Friedrich-Wilhelm-Murnau-Stiftung, Wiesbaden / Institut für Kulturaustausch, Tübingen, Filmstill: Friedrich Wilhelm Murnau | Die Mutter aller Horrorfilme: Szenenfoto aus "Nosferatu, eine Symphonie des Grauens" (1921).
Mathias Wiedemann
 |  aktualisiert: 08.02.2024 10:09 Uhr

"Das hat es in Deutschland noch nie gegeben", sagt Wolf Eiermann, Leiter der Museums Georg Schäfer in Schweinfurt. Eiermann meint die jüngste Ausstellung seines Hauses. Deren Titel "Expressionismus in Kunst und Film" ist wörtlich zu nehmen: Es sind Bilder und Filme aus dem frühen 20. Jahrhundert zu sehen – gemeinsam in einer Ausstellung. Ein Novum. Das sei technisch wie finanziell eine Herausforderung gewesen, sagt der Museumleiter: "Da war ich naiv, das gebe ich zu."

'Das hat es in Deutschland noch nie gegeben', sagt Wolf Eiermann, Leiter der Museums Georg Schäfer, über die Ausstellung 'Expressionismus in Kunst und Film'.
Foto: Anand Anders | "Das hat es in Deutschland noch nie gegeben", sagt Wolf Eiermann, Leiter der Museums Georg Schäfer, über die Ausstellung "Expressionismus in Kunst und Film".

Doch es hat geklappt. Eingebaute Minikinos und zusätzliche Monitore in den Sälen ermöglichen ein faszinierendes Mit- und Nebeneinander. Die Schau, entstanden in Kooperation mit der Kunsthalle Emden und dem Institut für Kulturaustausch Tübingen, zeigt rund 100 originale Gemälde und Grafiken von bekannten Künstlerinnen und Künstlern wie Paula Modersohn-Becker, Erich Heckel, Max Pechstein, Otto Dix, August Macke, Ernst Ludwig Kirchner, Otto Mueller oder Emil Nolde.

Fotoserie

Und eben an mehreren Stellen Filme in größeren und kleineren Ausschnitten, deren Macher sich in der Frühzeit des Mediums direkt bei der Bildsprache des Expressionismus bedienten. Die meisten Titel sind heute legendär: "Das Cabinet des Dr. Caligari" (1920), "Nosferatu, eine Symphonie des Grauens" (1921), "Dr. Mabuse" (1922) oder "Metropolis" (1927).

Wie sich zeigt, ist "Expressionismus" ein Oberbegriff für sehr viele unterschiedliche Ansätze und Ausdrucksformen. Hier sind 4 überraschende Erkenntnisse der Ausstellung:

1. Expressionismus ist nicht gleich Expressionismus

Beispiel für eine vertrautere Spielart der Expressionismus: Wilhelm Morgner, Selbstbildnis (XVI), 1912 (Ausschnitt).
Foto: Courtesy of Osthaus Museum Hagen / Institut für Kulturaustausch, Tübingen | Beispiel für eine vertrautere Spielart der Expressionismus: Wilhelm Morgner, Selbstbildnis (XVI), 1912 (Ausschnitt).

Was heute unter einem weltweit bekannten Gattungsbegriff zusammengefasst wird, ist mitnichten eine einheitliche Kunstrichtung. Sie durchlief vielmehr mehrere Wandlungsprozesse. Nach der Wende zum 20. Jahrhundert machten sich junge Künstlerinnen und Künstler, angeödet von der Dekadenz des Fin de Siècle und abgestoßen von den Zerstörungen der Industrialisierung, auf die Suche nach den letzten Paradiesen. Sie glaubten sie in der Südsee oder in Afrika zu finden, in der "Urkunst" der damals so genannten "Naturvölker".

Die plakativen, scharfen, holzschnittartigen Formen, die dabei entstanden, griffen die frühen Filmkünstler auf, um in ihren Werken ihrerseits die Schrecken und Abgründe der modernen Städte zu illustrieren. Das wiederum beeinflusste die bildenden Künstler des Expressionismus: Aus bildgewordener Natursehnsucht wurden harte, verstörende Anklagen gegen Armut und Krieg.

2. Die Expressionisten erfanden den Horrorfilm

Gruseliger geht es kaum: Szene aus 'Das Cabinet des Dr. Caligari' (1920).
Foto: Mathias Wiedemann | Gruseliger geht es kaum: Szene aus "Das Cabinet des Dr. Caligari" (1920).

Die frühen Filmkünstler erkannten schnell das Potenzial der bewegten Bilder: Das Publikum in den riesigen Kinopalästen war schwer beeindruckt. Angeregt vom Aufkommen der Psychologie, also dem Blick ins Innere, der Auseinandersetzung mit Ängsten und (Alp-)Träumen, wurden die Motive beängstigender, die Geschichten gruseliger.

In Friedrich Wilhelm Murnaus "Nosferatu"  geisterte – frei nach Bram Stokers "Dracula" – ein spitzohriges, langfingriges, blasses Monster mit Reißzähnen über die Leinwand. Und in "Das Cabinet des Dr. Caligari" zieht ein Schlafwandler, der tagsüber als Jahrmarktsattraktion bestaunt wird, nachts mordend durch die Stadt. Der Horrorfilm war erfunden. Deshalb übrigens hält das Museum die Ausstellung für Kinder unter 14 Jahren für nicht geeignet.

3. Spezialeffekte im Film sind keine Erfindung Hollywoods 

Blick in eines der Minikinos der Ausstellung. Kunstvolle Überblendungen, wie hier links zu sehen, sind in den frühen Stummfilmen fast schon Routine.
Foto: Anand Anders | Blick in eines der Minikinos der Ausstellung. Kunstvolle Überblendungen, wie hier links zu sehen, sind in den frühen Stummfilmen fast schon Routine.

Oft ging es in den expressionistischen Filmen um das Abseitige, Jenseitige, Unheimliche, Unerklärliche. Dämonen mussten sichtbar gemacht werden, eingebildete und tatsächliche. Deshalb mussten Traumsequenzen, Halluzinationen, einstürzende Straßenschluchten, plötzlich auftauchende, ebenso schnell wieder verschwindende oder gar fliegende Figuren her. Die frühen Regisseure und ihre Teams ließen sich einiges einfallen.

Sieht man die erstaunlich überzeugenden Effekte in Fritz Langs "Metropolis", errät man schnell, wo Hollywood seine Ideen herbekam. Was, natürlich, nicht zuletzt auch daran lag, dass viele deutsche Künstler, unter ihnen auch Lang und Murnau, auf der Flucht vor den Nationalsozialisten in die USA emigrierten.

4. Zu Lebzeiten waren die deutschen Expressionisten im Ausland völlig unbekannt

Während deutsche Künstler, hier eine Bronze von Rudolf Belling, der modernen, immer technisierteren Welt ebenso wie den Nazis skeptisch bis ablehnend gegenüberstanden, feierten die italienischen Futuristen die Moderne und machten gemeinsame Sache mit dem Faschismus.
Foto: Anand Anders | Während deutsche Künstler, hier eine Bronze von Rudolf Belling, der modernen, immer technisierteren Welt ebenso wie den Nazis skeptisch bis ablehnend gegenüberstanden, feierten die italienischen Futuristen die ...

Heute hängen ihre Werke in allen bedeutenden Museen der Welt: Die deutschen Expressionisten sind weltberühmt. Zu ihren Lebzeiten kannte sie im Ausland so gut wie niemand, auch wenn vielerorts vergleichbare Kunstrichtungen entstanden. In Frankreich und den USA setzte sich ab 1925 der Begriff Art Déco durch – viele Arbeiten dieser Richtung könnten auch als expressionistisch gesehen werden.

Und während deutsche Künstler der modernen, immer technisierteren Welt ebenso wie den Nazis skeptisch bis ablehnend gegenüberstanden (in der Ausstellung illustriert das unter anderem eine Bronze von Rudolf Belling), feierten die italienischen Futuristen die Errungenschaften der Moderne und machten gemeinsame Sache mit dem Faschismus. Dass schließlich die Nationalsozialisten alle Werke des Expressionismus für "entartet" erklärten – egal ob naturnah, stadtfeindlich oder gruselig –, verzögerte die internationale Anerkennung zusätzlich.

"Expressionismus in Kunst und Film" - Museum Georg Schäfer, Schweinfurt. Bis 19. Februar 2023. Mi.-So. 10-17 Uhr, Di. 10-20 Uhr. Die Ausstellung ist für Kinder unter 14 Jahre nicht geeignet. Der ausführliche Katalog (mit QR-Codes für Filmausschnitte) kostet im Museum 34,90, sonst 39,90 Euro. Zum umfangreichen Begleitprogramm gehören die "Lange Nacht des Horrorstummfilms" (3. Dezember, 18 Uhr) und  die "Lange Nacht des expressionistischen Stummfilms (24. Januar, 18 Uhr).

 
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