Man müsste Michael Wollny während seiner Konzerte so einen Schrittzähler ans Bein machen. Vermutlich käme dann heraus, dass der Jazzpianist pro Stunde einen Halbmarathon bewältigt – ohne den Klavierhocker zu verlassen, wohlgemerkt. So viel Bewegung in den Beinen dürfte nicht mal Mick Jagger in seinen besten Jahren auf die Bühne gebracht haben. Wollnys Füße sind immer in Bewegung – tanzend, hüpfend, einander umschlingend. Wie er dabei hochpräzise das Pedal bedient, ist vollkommen rätselhaft.
Wenn Michael Wollny am Flügel sitzt, wird aus dem freundlichen, sanften, etwas schlacksig wirkenden Mann ein Kraftwerk. Ein Generator, der Energie für weit mehr produziert als nur eine Bühne, einen Saal, eine Open-Air-Treppe wie am Samstag beim Würzburger Hafensommer. Wenn Michael Wollny musiziert, scheint es, als verwende er ein Gutteil dieser Energie darauf, das Übermaß seiner Inspiration in diese Stücke zu kanalisieren, deren jedes eine ganze Welt für sich ist.
Tatsächlich ist es, als erlebe man immer wieder neue Schöpfungsgeschichten, die die Welt, also das Universum und das Leben darin, auf seltsam vertraute Art abbilden und interpretieren. Er habe zu Musik ein haptisches Verhältnis, hat Wollny einmal gesagt. So fühle sich für ihn ein ganz bestimmter Akkord an wie eine ganz bestimmte Kurve in seiner Geburtsstadt Schweinfurt.
Michael Wollny kann ein charmanter Moderator seiner Konzerte sein. Wenn er in seiner ekstatischen Versenkung nicht vergisst, die Stücke anzusagen – „vor allem, wenn ein Stück mal wieder anders ausgeht als gedacht“, entschuldigt er sich. Das Publikum auf der dicht besetzten Treppe macht sie deshalb kein bisschen weniger bereitwillig mit, die Klangreisen, die offenbar auch für ihren Schöpfer Entdeckungsreisen sind.
Stücke, deren Struktur sich erst allmählich aus geräuschhafter Fläche (für die vor allem Bassist Christian Weber zuständig ist) erhebt, Stücke, die in wilde Tänze münden, Stücke voll beseelter Schlichtheit, etwa die erste Zugabe „Little Person“, in denen der Augenblick zur kleinen Ewigkeit werden kann – hin und wieder gelingt es also tatsächlich, das „verweile doch. . .“
Eric Schaefer, der langjährige Partner am Schlagzeug, ist dabei idealer Weggefährte. Wären nicht die – offensichtlich durchkomponierten – makellosen Übergänge, die dauernden Takt- und Tempowechsel, man könnte meinen, hier improvisierten zwei Musiker, die sich ein Bewusstsein teilen.
Zuvor hat die 1986 geborene Estin Maarja Nuut eigenartige Geschichten aus dem hohen Norden erzählt – von mordenden Schwestern, von rituellen Spielen, in denen Pferde gegen Wölfe antreten, und von der gemeinsamen Unendlichkeit der Eis- und Schneelandschaften ihrer Heimat und der Sahara. Maarja Nuut, groß, schlank, ruhig und kühl, braucht dazu nur ihre Stimme, ihre Geige und die Loop-Station, mit der sie Schicht um Schicht ihrer minimalistischen Songs übereinanderlegt. Und so werden auch hier aus einem Intervall, einem kleinen traditionellen Motiv unversehens Welten – fremde Welten, in denen Dinge passieren, die wir verstehen, obwohl wir sie nicht erklären können.