Man kann nicht wirklich behaupten, die Corona-Krise hätte bislang neue Formen der Musikkultur befeuert. Jedenfalls ist außer mehr oder weniger qualitätvollen Streams im Internet und mehr oder weniger kunstvollen Video-Zusammenschnitten nicht allzu viel passiert. Wie auch? Die Beschränkungen ließen viele Wochen weder Konzerte noch Probenarbeit zu. So haben manche Künstler ihr Instrument ein Vierteljahr ganz aus der Hand gelegt, andere ihre Kunst aus dem Wohnzimmer in die Welt geschickt. "Verramscht", wie Kritiker meinen.
Das Würzburger Mozartfest 2020 bediente sich mit etlichen Live-Streams zwar auch der digitalen Möglichkeiten, hatte aber, sobald klar war, dass das Festival nicht ausfallen würde, versprochen, man werde nicht ganz ins Netz ausweichen. Und so gab es denn auch etliche Live-Auftritte: von der Ladefläche des Musik-Lkw "Blauer Eumel", von Balkonen der Stadt und tatsächlich auch im Saal.
Lichtkreise geleiten Musiker und Besucher durch den Saal
Das "Orchester im Treppenhaus" aus Hannover, bekannt für ungewöhnliche Konzertformen, hat für seine Auftritte im Vogel Convention Center ein eigenes Corona-Format entwickelt: "Circles". Auf den Boden projizierte Lichtkreise holen die Besucher am Eingang ab, geleiten sie durch den dunklen Saal an ihren – vorläufigen – Platz. Auch die Musiker werden von wandernden Kreisen bewegt – aufeinander zu, voneinander weg, umeinander und um das Publikum herum.
Auch wenn dieses lichtgesteuerte Einchecken zu Beginn ein wenig langwierig ist und es nicht immer einleuchtet, warum welche Besucher später noch einmal auf Wanderschaft geschickt werden: musikalisch ist das einstündige Programm "Circles" ausgesprochen schlüssig. Die Stücke vom 9. Jahrhundert bis zur Gegenwart gehen wie ein einziges komplexes und dennoch eigentümlich geschlossenes Werk ineinander über, es entstehen verblüffende Querverbindungen etwa zwischen byzantinischem Hymnus und Prokofjew, zwischen Bach und Improvisation.
Der offene Schluss entlässt die Besucher in eine ungewisse Zukunft
So faszinierend die Situation, so packend die Choreografie, so erfrischend die ferngesteuerten Begegnungen der Zuhörer (immer unter Wahrung des Abstands) mit Moritz Ter-Nedden und Johanna Ruppert (Violinen), Yannick Hettich (Viola), Thomas Posth (Violoncello) und Moritz Wappler (Percussion), so wenig gerät das Wichtigste in den Hintergrund: die Musik. Der offene Schluss des langsamen Satzes aus Beethovens letztem Streichquartett op. 135 entlässt die Besucher denn auch nur allzu deutlich in eine ungewisse Zukunft.
Die Lautten Compagney aus Berlin hat das Moratorium mit wöchentlichen Lounge-Konzerten im Netz aus dem Delphi-Theater in Berlin überbrückt. Bei den beiden Mozartfest-Auftritten in der Blauen Halle bei va-Q-tec sitzt das Originalklang-Ensemble erstmals seit Anfang März wieder einem analogen Publikum gegenüber. Das Programm heißt bezeichnenderweise "Auferstehung".
Sogar Zugaben sind wieder möglich
In den Monaten ohne Live-Auftritte ist ein Crossover-Projekt entstanden, das Werke von Johann Sebastian Bach und Mozart "in ein anderes Kleid" steckt, wie Ensembleleiter Wolfgang Katschner sagt. Dabei werde Bach nicht verändert, um zu zeigen, "dass er ganz toll ist", sondern, um mit ihm zu spielen und ihn besser zu verstehen.
Zusammen mit der vielseitigen Sopranistin Hanna Herfurtner zeigen die Berliner, wie verwandt die berühmte "Air" und der Song "A Whiter Shade Of Pale" sind, wie viel Swing in all den Kantaten, Motteten, Klavierstücken und Chorälen steckt, welch große Effekte winzige Veränderungen haben können. Und dass man im Präludium zur G-Dur-Cellosuite nur ein Sechzehntel pro Takt weglassen muss, um eine Hommage an Dave Brubeck ("Take Five") zu bekommen. Ein kundiger Spaß mit Tiefgang, den ein vergnügtes und beglücktes Publikum lange feiert. Und tatsächlich: Sogar Zugaben sind wieder möglich.