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WÜRZBURG
Jürgen Lenssen: „Kunst ist Provokation, nicht Dekoration“
Jürgen Lenssen: Der scheidende Kunstreferent hat über Jahrzehnte Sakralbauten und Museen innerhalb und außerhalb der Diözese gestaltet und geprägt. Und hat dabei bewusst nicht den Konsens gesucht.
Jürgen Lenssen im Museum am Dom in Würzburg. Am Sonntag verabschiedet sich der langjährige Kunstreferent mit einem Gottesdienst im Dom.
Foto: Thomas obermeier | Jürgen Lenssen im Museum am Dom in Würzburg. Am Sonntag verabschiedet sich der langjährige Kunstreferent mit einem Gottesdienst im Dom.
Christine Jeske
 |  aktualisiert: 07.04.2020 11:16 Uhr

Er war gerade in Osnabrück zum Priester geweiht worden. Sein Ruf eilte ihm aber bereits voraus. Bis in den hohen Norden – auf die Ostfriesische Insel Langeoog. Selbst dort wussten die Leute: Jürgen Lenssen liebt die Kunst. „Langeoog war mein erster Einsatzort; ich sollte über Silvester einspringen, der Pfarrer war krank.“
Der junge Geistliche machte sich also im Jahr 1971 von Geesthacht bei Hamburg, wo er aufgewachsen und mit seinen Eltern die Weihnachtsfeiertage verbracht hatte, auf den Weg Richtung Nordsee.

Im Pfarrhaus von Langeoog wurde er schon sehnsüchtig erwartet. Nach dem Abendessen wollte der diensthabende Pfarrer noch etwas zur Unterhaltung beitragen. „Ich habe gehört, sie haben es mit der Kunst“, habe der Seelsorger zu ihm gesagt, „ich möchte Ihnen etwas zeigen“. Der Diaprojektor wurde aus dem Schrank geholt, die Leinwand aufgestellt, und dann sah Jürgen Lenssen Pistolen, Gewehre, Messer und andere Waffen, die in den Vitrinen irgendeines Militärmuseums ausgestellt waren. Der junge Priester war irritiert und schwieg höflich. Das war nicht die Kunst, die er liebte, und nicht das Museum, das er freiwillig besuchen würde.

Zahlreiche Begegnungen sind Jürgen Lenssen in Erinnerung geblieben – weil sie anrührend, menschlich oder einfach skurril waren. „Es waren reiche Jahre, in denen viele tiefe Freundschaften entstanden sind.“ Natürlich gab es auch weniger schöne Episoden. Doch er hat Abstand gewonnen. Der dienstälteste Domkapitular und langjährige Kunstreferent der Diözese Würzburg verabschiedet sich in wenigen Tagen in den Ruhestand. Am 11. Mai wird er 70 Jahre alt. Gemäß den kirchenrechtlichen Vorgaben hat er dem Bischof seinen Rücktritt angeboten. Er wurde angenommen.

Der Fall Michael Triegel

Bischof Friedhelm Hofmann wird am 12. Mai 75, er hat Papst Franziskus um eine Verlängerung um einige Monate gebeten. Das schwebt Lenssen nicht vor. Nur im Dom wird er sonntags noch öfter predigen. Das haben sich viele Gläubige gewünscht – und sie haben dafür gekämpft.

Ganz weg ist Lenssen also nicht. Zudem bleibt sein Werk. Und das ist beachtlich. Überall in der Diözese hinterlässt der Kunstreferent, der bis 2013 auch Baureferent war, seine Spuren. Seine Handschrift gefiel nicht immer. Einige Male gab es Einwände, Kritik, heftige Seitenhiebe und sogar übelste Anfeindungen. Etwa bei der Umgestaltung der Ritterkapelle in Haßfurt. Heute ist der Protest verstummt. Auch Bischof Hofmann war nicht immer mit ihm einer Meinung. Schon bevor er nach Würzburg kam, hat er etwa im Museum am Dom ein Bild von Michael Triegel, den Lenssen früh gefördert hat, abhängen lassen. Vor wenigen Tagen hat Würzburgs Kirchenoberhaupt dagegen ein anderes Werk des Leipziger Künstlers in der Kirche St. Peter und Paul gesegnet.

Etwas hervorrufen, das sich auf den ersten Blick nicht erschließt

Lenssen fordert die Menschen heraus. „Kunst ist keine Dekoration, sondern Provokation“ sagt er, „das heißt, etwas hervorrufen, was sich auf den ersten Blick nicht erschließt.“ Das sei sicher manchmal unangenehm. Deshalb streite man sich mit der und um die Kunst. „Weil sie Saiten im Menschen anschlägt, die das Wort nicht erreicht.“ Gut, Jürgen Lenssen ist auch ein äußerst beliebter Prediger.

Dabei begann es nicht mit Worten, sondern mit Millimeterpapier – in der Teppichfabrik in Geesthacht. Dort arbeitete der Vater. Lenssen junior wollte die Schule verlassen und auf die Kunstakademie nach Hamburg. Da forderte der Vater ihn auf, doch erstmal im Betrieb sein kunsthandwerkliches Talent zu testen. „Eine Woche lang habe ich Entwürfe aufs Papier übertragen. Wenn man sich einmal verzeichnet hat, war die ganze Arbeit umsonst. Nach dieser Woche bin ich wieder in die Schule gegangen.“

In der Schule nannten sie ihn "Pastor"

Neben der Kunst, gab es die Theologie. „Ich war in der Klasse in Geesthacht der einzige Katholik. „Pastor“ nannten ihn seine Mitschüler. „Andere wollten Lokomotivführer werden, ich habe bereits beim Eintritt in die Volksschule gesagt, ich werde Pfarrer.“ Jahre nach der ernüchternden Erfahrung in der Teppichfabrik beschloss Jürgen Lenssen, in Würzburg Theologie zu studieren, also im Frankenland. Es ist die Heimat seiner Mutter. „Dort habe ich mich immer wohlgefühlt.“

Unerlaubterweise studierte Jürgen Lenssen neben der Theologie Kunstgeschichte und Volkskunde. Und nach der Priesterweihe „floss die Kunst immer in die Gemeindearbeit mit ein.“ Er entwarf Messgewänder und Wandbehänge, Wand- und Standkreuze, Grabsteine und vieles mehr. Zudem organisierte er Kunstausstellungen – auch in Kirchen. Später gestaltete er sie komplett aus.

Seit 1974 stand er in Diensten des Bistums Würzburg

Jürgen Lenssens Werkverzeichnis umfasst 371 Sakralbauten (auch evangelische) vom Dom bis zur Kapelle innerhalb und außerhalb des Bistums Würzburg, wo er seit 1974 in Diensten stand. Er hat sogar in Pakistan und Bolivien gebaut, doch besonders am Herzen liegen ihm die Projekte ganz in der Nähe, in den fränkischen Gemeinden. Lenssen erzählt von den kleinen Kapellen, den Kontakten zu den Menschen, von ihrer Offenheit, ihrem intuitiven Verständnis für moderne Kunst. Seine Honorarforderung hat sich im Lauf der Jahre herumgesprochen: „Ich habe für jeden Auftrag immer nur zwei Paar grobe Bratwürscht gewollt und meistens erhalten – nur nicht beim Dom.“

Auch die Museumslandschaft im Bistum hat der Kunstreferent entscheidend geprägt. 13 Räume und Häuser hat er konzipiert, etwa zum Historismus in Haßfurt, zur Gotik in Gerolzhofen, zum Pilgerwesen in Dettelbach und jüngst zum frühen Christentum in Karlburg. Zudem hat er mit den Stiftungen seiner eigenen Krippensammlungen zwei Museen verwirklicht: im ältesten Haus in Glattbach bei Aschaffenburg sowie in Baunach und mit seiner Sammlung moderner Kunst das Museum Mildenburg bei Miltenberg.

Jürgen Lenssens Gesamtkunstwerk: die Kirche in Waigolshausen.
Foto: Anand Anders | Jürgen Lenssens Gesamtkunstwerk: die Kirche in Waigolshausen.

Das Mutterhaus aber steht in Würzburg: Auch das Museum am Dom rief bereits bei der Planung ab 2003 Proteste hervor. Nie wird Jürgen Lenssen vergessen, wer ihm zur Seite stand und ihm voll vertraute. „Das war Bischof Paul Werner.“ Mit dem Vorgänger von Bischof Friedhelm hat Jürgen Lenssen über den Plänen gesessen und diskutiert. Scheele habe ihm immer den Rücken gestärkt.

Der große Aufreger „Mensch Maria“

Das Vertrauen zwischen beiden war schon vor diesem Großprojekt da. Wegen Scheele war Lenssen auch in Würzburg geblieben, obwohl ihm zwei Professuren angeboten wurden: in Fulda und in Bochum. Das Amt des Bau- und Kunstreferenten reizte ihn mehr. Dazu wurde er 1989 ernannt.

Schnell sorgte er mit der Ausstellung „Mensch Maria“ für Gesprächsstoff im Marmelsteiner Kabinett. Zudem kündigte er damals ein Diözesanmuseum in Würzburg an, was vom Domkapitel zunächst nicht gewollt war. Der kurze Kommentar von Bischof Scheele: „Gut gebrüllt, Löwe.“ Ein besonderes Projekt war für ihn auch die Kirche in Waigolshausen. Und ein mutiges dazu, denn auch dort bringt er Alt und Neu in aller Konsequenz zusammen: den spitzen Echterturm mit dem rechteckigen Kubus des Kirchenbaus und dem gerundeten goldenen Portal der Westfassade. Er bezeichnet es als sein „Gesamtkunstwerk“. Es wird nicht sein letztes bleiben.

Zur Person – Termin am Sonntag

Jürgen Lenssen wurde am 11. Mai 1947 in Mönchengladbach geboren. Nach dem Studium der Theologie, Kunstgeschichte und Volkskunde weihte ihn Bischof Wittler 1971 in Osnabrück zum Priester. Ab 1974 kam Lenssen in die Diözese Würzburg. 1989 ernannte ihn Bischof Paul-Werner Scheele zum Leiter der Hauptabteilung Bau- und Kunstwesen im Ordinariat. Seit 1991 ist er Mitglied des Domkapitels. 1992 wurde Lenssen Direktor der Stiftung Kunstsammlung der Diözese, 1998 Vorsitzender der Arbeitsgemeinschaft kirchlicher Museen und Schatzkammern im deutschsprachigen Raum. Von 1999 bis 2003 war er Präsident der Deutschen Gesellschaft für zeitgenössische Kunst und christliche Kultur. 2009 zeichnete ihn die Stadt Würzburg mit dem Kulturpreis aus.

Über 70 Künstler hat Jürgen Lenssen über die Jahrzehnte beauftragt, Werke für Kirchen im Bistum Würzburg zu schaffen. Nicht nur von ihnen verabschiedet er sich mit einem Gottesdienst an diesem Sonntag, 7. Mai, im Würzburger Kiliansdom. Beginn ist um 11.30 Uhr. An diesem Sonntag endet auch die Ausstellung „Gegenstück“ im Museum am Dom, die alter Kunst neue, zeitgenössische gegenüberstellt. cj

 
 
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