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WÜRZBURG
"In Serie": Dominoeffekt des Bösen
In Serie: In einer Reihe von Artikeln beschäftigen wir uns feuilletonistisch mit alten und neuen Fernsehserien. Heute: „How to get away with Murder“ oder Schuldig ist nur, wer sich erwischen lässt.
Mathias Wiedemann
 |  aktualisiert: 07.04.2020 10:48 Uhr

Noch eine Anwaltsserie. Das amerikanische Rechtssystem eignet sich wie kaum ein anderes für Anwaltsserien. Die Botschaft ist immer ähnlich: Schuldig im Sinne der Anklage ist nur, wer sich erwischen lässt. Und selbst dann: Wer rechtzeitig Zeugen einschüchtert oder Beweise verschwinden lässt, die Ermittler erfolgreich diskreditiert oder einfach sympathisch rüberkommt und die Geschworenen auf seine Seite zieht, der hat gute Chancen, straffrei davonzukommen, egal, was er getan hat.

Und natürlich vor allem, wer den richtigen Anwalt hat. Wie man ein solcher wird, das lehrt die Anwältin Annalise Keating in einem Kurs an der (fiktiven) Middleton Law School in Philadelphia. Titel: „How to get away with Murder“ – wie man mit Mord davonkommt. Von der gleichnamigen ABC-Serie gibt es bislang zwei Staffeln, beide sind in einschlägigen Streaming-Portalen verfügbar. Im deutschen Fernsehen lief die erste Staffel auf dem Bezahlsender RTL Crime.

An ebenso brillanten wie charismatischen Anwälten herrscht ja nun im US-Fernsehen kein Mangel, man denke nur an Alan Shore ( „Boston Legal“ ) oder das Gespann Harvey Specter und Mike Ross („Suits“). Annalise Keating ist anders. Sie stellt ihren Mandanten grundsätzlich nicht die Frage, ob sie es getan haben oder nicht. Sie will es gar nicht wissen. Auch ihr geht es nur ums Gewinnen. Aber sie will gewinnen um jeden Preis. Gegen Annalise Keating sind Alan Shore und Mike Ross moralistische Waisenknaben. Die Serie setzt ein zu Beginn des Semesters. Wie immer wählt Professor Keating fünf viel versprechende Studienanfänger aus, um ihr zuzuarbeiten und dabei gleich praktische Erfahrungen zu machen. Für die Erwählten – die Keating Five – ist das eine Ehre: Wes, der es als Nachrücker an die Uni geschafft hat; Michaela, die adrette Perfektionistin; Connor, der schwule Sonnyboy; Laurel, die Rechtschaffene; Asher, verwöhnter Sohn eines Bundesrichters.

Eine disparate Gruppe aus jungen Menschen unterschiedlicher Herkunft und Hautfarbe, die natürlich alsbald ein eingeschworenes Team sein wird. So will es das Gesetz der (TV-)Serie, so will es der amerikanische Traum, und so kommt es auch. Nur dass das Verbindende nicht die Liebe zur Juristerei ist, sondern Mord. Oder Totschlag. Oder Notwehr. Egal – es darf sowieso niemals rauskommen.

Jede Staffel funktioniert als kompliziertes, hochspannendes Geflecht aus Gegenwart, Vor- und Rückblenden. Während sich die Studenten in ihre Gruppenrollen finden, schießen Fetzen einer düsteren Zukunft dazwischen: Eine Leiche muss beseitigt werden. Vier der Keating Five haben einen leblosen, in einen Teppich eingewickelten Körper in den Wald geschafft. Wer das ist, warum er starb, das wird sich erst von Folge zu Folge enthüllen.

Klar ist: Die Nähe zu Annalise Keating wird nach und nach für alle zum unausweichlichen Sündenfall. Aus einem Studienanfang voll hoher Erwartungen wird ein Albtraum voll Angst und Schuld. Ein Dominoeffekt des Bösen: Jede Tat gebiert sofort eine neue, um die alte zu vertuschen. Eine sich immer schneller drehende Spirale aus Lügen, Erpressung und gegenseitiger Abhängigkeit setzt ein.

Wer aber ist diese Annalise Keating? Eine extrem erfolgreiche schwarze Anwältin, die es als Professorin an eine Elite-Uni geschafft hat. Die unangreifbar wirkt in ihrer fachlichen Souveränität und ihrer rücksichtslosen Geistesgegenwart. Die keinen Prozess verloren gibt und erst dann zu Hochform aufläuft, wenn alles aussichtslos erscheint. Die sich dennoch allabendlich mit Gin betäubt und dem Spiegel, sobald sie die Perücke abgenommen hat, das Gesicht einer völlig erschöpften, einsamen Frau zeigt.

Die großartige Viola Davis ist in dieser Rolle die derzeit vielleicht faszinierendste Fernsehfigur. Ihre Annalise ist eine getriebene zwischen unerbittlicher Härte und unheilbarer Verletztheit – Viola Davis lebt jede Nuance zwischen diesen beiden Polen, sie dabei zu erleben, kommt dem Eindringen in die Intimsphäre einer sehr komplexen Persönlichkeit gleich. Dass Viola Davis die erste afroamerikanische Schauspielerin ist, die – sehr zu Recht – den Emmy als beste Hauptdarstellerin in einer Dramaserie gewann, liegt daran, dass es noch nicht allzu viele afroamerikanische Hauptdarstellerinnen in einer Dramaserie gibt.

Und es zeigt, dass die Rassenfrage auch in „How to get away with Murder“ sehr zu Recht immer wieder anklingt – und sei es nur in der kategorischen Weigerung von Annalise Keating, die Rassenfrage überhaupt zur Kenntnis zu nehmen.

Die Drehbuchautorin und Produzentin Shonda Rhimes hat nach „Grey?s Anatomy“, „Private Practice“ und „Scandal“ mit „How to get away with Murder“ ihre bislang härteste und originellste Serie geschaffen. Deren Reiz liegt nicht zuletzt im virtuosen Widerlegen eherner Fernsehklischees. Shonda Rhimes stellt unverhohlen die Frage, ob zwangsläufig der böse ist, der Böses tut.

Man kann darüber streiten, ob es angebracht war, dem Chrystal-Meth-Produzenten Walter White aus „Breaking Bad“ oder dem korrupten Stadtkämmerer Nucky Thompson aus „Boardwalk Empire“ die Daumen zu drücken. Bei Annalise Keating und den Keating Five fällt es wirklich schwer, das nicht zu tun.

Lesen Sie in der nächsten Folge: „The Neighbors“ oder Die grünen Nachbarn von nebenan.

 
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