Man würde ihn gerne mögen, diesen Enoch Thompson, genannt Nucky. Diesen einsamen, sensiblen Mann, der früh seine geliebte Frau verloren hat und der seit Jahren eine Etage im Ritz Carlton bewohnt, weil es für ihn kein Zuhause mehr gibt. Die HBO-Serie „Boardwalk Empire“ (bei uns auf Sky Atlantic) beginnt in der Neujahrsnacht 1920, in der die Prohibition in Kraft tritt. Der Schauplatz ist im Titel enthalten: Der Boardwalk ist die holzbeplankte Strandpromenade von Atlantic City, der Vergnügungshauptstadt Amerikas, lange bevor Las Vegas oder Reno in Mode kamen.
Nucky Thompson ist der Kämmerer dieser Stadt. Er hat immer ein offenes Ohr für die Sorgen der Bürger. Immer ist er ansprechbar, immer weiß er Rat, immer kann er hilfreiche Kontakte vermitteln. Auf den Versammlungen der Frauenvereine gegen Alkohol kann er höchst bewegende Grußworte sprechen.
Nucky Thompson ist aber auch der größte Gauner der Stadt. Korrupt bis ins Mark (wie alle anderen Politiker übrigens auch), gierig, skrupellos und bestens vernetzt, kassiert er bei jedem Geschäft mit, ob legal oder illegal. Die Prohibition ist ein Geschenk des Himmels – Nucky fällt sozusagen von Staats wegen ein Monopol in den Schoß. Wer ihm in die Quere kommt, wird entweder gekauft, erpresst oder beseitigt. Die Betreiber der Bars, Clubs, Spielhöllen, Bordelle, Cabarets und Restaurants von Atlantic City denken nicht im Traum daran, sich an das Alkoholverbot zu halten. Nucky besorgt den Stoff – echten Brandy aus Kanada oder gepanschten Fusel, dessen Hersteller ihm tributpflichtig sind. Die 18 Millionen Dollar teure Pilotepisode, bei der Produzent Martin Scorsese höchstselbst Regie geführt hat, ist ein wildes Bacchanal: Die Stadt feiert den Beginn der Prohibition mit einem kollektiven Besäufnis, und es scheint, als werde sie danach nie mehr richtig nüchtern.
„Boardwalk Empire“ ist ein Who is Who des frühen amerikanischen Gangstertums: Es treten auf Al Capone, Lucky Luciano, Arnold Rothstein, Johnny Torrio, Bugsy Siegel und Meyer Lansky. Auch die Figur des Nucky ist historisch – Enoch Lewis „Nucky“ Johnson lebte von 1883 bis 1968 und war tatsächlich Herr über ein gewaltiges Boardwalk Empire. Seine Karriere endete erst 1941, als sie ihn (wie Al Capone) dann doch noch wegen Steuerhinterziehung drankriegten.
Steve Buscemi, der in einer schier unglaublichen Menge von Filmen bislang vor allem markante Nebenrollen gespielt hat, gerne auch als Mafioso der zweiten und dritten Garde, läuft als Nucky zur Form seines Lebens auf. Es umweht ihn immer ein Hauch von Melancholie – als sei das Böse, das er tut, in Auftrag gibt oder auch nur zulässt, Äußerung einer Macht, der auch er sich nicht entziehen kann. Als kämpfte tief in ihm etwas erfolglos gegen dieses Böse an. Es ist Steve Buscemis große Kunst, die Zuschauer im Dunkeln zu lassen, was denn nun tatsächlich in seiner Figur vor sich geht. Die Frauen jedenfalls lieben diese Aura. Nucky gibt ihnen das Gefühl, die einzigen Zeuginnen seiner Sensibilität zu sein. Und die Kamera liebt sein Gesicht. Die blasse, pergamenten zerknitterte Haut. Die Winkel des schiefen, irgendwie femininen Mundes, die nach unten zeigen, auch wenn er lächelt. Und vor allem diese hellen, hervorstehenden, immer leicht wässrig wirkenden Augen, die schon so viel gesehen zu haben scheinen. Buscemi spielt mit diesem Gesicht wie ein Virtuose auf seinem Musikinstrument. Mit minimalen Signalen kann er umschalten von Jovialität auf Brutalität, von Anteilnahme auf erschreckende Mitleidlosigkeit.
Die Serie verträgt erstaunlich viele starke Charaktere: Jimmy Darmody (Michael Pitt), der einstige Princeton-Student, der sich als Soldat verpflichtet hatte und als Soziopath aus den Schützengräben des Ersten Weltkriegs zurückgekehrt ist. Margaret Schroeder (Kelly Macdonald), die schöne, traurige Witwe aus Irland (Nucky hat ihren Mann umbringen lassen), die so gefestigt wirkt in ihrer Rechtschaffenheit und dann doch Nuckys Geliebte wird. Der Bundespolizist Nelson van Alden (Michael Shannon), ein fanatischer Puritaner, der mehr als alles andere Nucky zur Strecke bringen will. Und schließlich Eli Thompson (Shea Whigham), Nuckys jüngerer Bruder und praktischerweise Sheriff von Atlantic County.
„Boardwalk Empire“ ist ein breit angelegter Historienroman, dessen faszinierend authentische Ausstattung nur die Bühne ist für das hochkomplexe Spiel der Figuren. Die alle – früher oder später – dem Genius Loci verfallen. Nelson Johnson, der die Buchvorlage geliefert hat, zitiert Murray Fredericks, einen ehemaligen Staatsanwalt von Atlantic City: „Wenn die Leute, die in die Stadt kamen, Bibellesungen gewollt hätten, hätten wir sie ihnen gegeben. Aber niemand hat je um eine Bibellesung gebeten. Sie wollten Schnaps, Weiber und Glücksspiel, also gaben wir ihnen das.“
Dieser Logik entkommt nur, wer die Atlantic City für immer verlässt. Und das gelingt den wenigsten. Das Gangsterparadies erinnert frappierend an den Song „Hotel California“ der Eagles: „You can checkout any time you like // But you can never leave“ – du kannst dich jederzeit abmelden. Aber weg kommst du hier nie. In Atlantic City bleiben, heißt, sich schuldig machen. Wer wollte schon dieser übermächtigen Versuchung eines gigantischen Selbstbedienungsladens ohne Kasse widerstehen? „Boardwalk Empire“ kommt ohne positive Identifikationsfigur aus. Dem gewaltbereiten Hedonismus steht nur gewaltbereite Lustfeindlichkeit gegenüber. Vielleicht ist es das, was Nucky so traurig macht. Und vielleicht ist es das, was beim Zuschauer immer wieder den Impuls auslöst, ihn trotz allem mögen zu wollen.