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BAYREUTH
Gezücht der Gierigen: Letzte Saison für Castorfs „Ring“
Bayreuther Festspiele: Frank Castorfs „Ring“ ist in seine letzte Spielzeit gestartet. Inzwischen halten sich Bravos und Buhs für die anrührende, lustige und überwältigende Inszenierung mindestens die Waage.
Bayreuther Festspiele 2017 - Siegfried       -  Mount Rushmore mit Kommunisten-Köpfen: Stefan Vinke (Siegfried) und Andreas Conrad (Mime) in „Siegfried“.
Foto: Enrico Nawrath, Festspiele Bayreuth, dpa | Mount Rushmore mit Kommunisten-Köpfen: Stefan Vinke (Siegfried) und Andreas Conrad (Mime) in „Siegfried“.
Mathias Wiedemann
 |  aktualisiert: 07.04.2020 11:24 Uhr

Man muss das nicht mögen, aber der Typ ist ein Genie!“ Sätze wie diesen hört man öfter über Richard Wagner. Doch diesmal gilt der Satz nicht dem Schöpfer des 15-stündigen Opernmonstrums „Der Ring des Nibelungen“, sondern dem Regisseur Frank Castorf, der die Tetralogie 2013 für die Bayreuther Festspiele inszeniert hat. Am Donnerstag ist mit der „Götterdämmerung“ der erste Durchlauf dieser fünften und letzten Saison zu Ende gegangen. Zweimal noch wird der Zyklus heuer zu sehen sein, 2018 gibt es ungewöhnlicherweise noch mal „Die Walküre“, als Auskopplung sozusagen, dann ist Castorfs „Ring“ Geschichte.

Den eingangs erwähnten Satz spricht ein Herr aus Südamerika, der heute in den USA lebt. Er ist im dritten Jahr in Folge angereist. Europäisches Regietheater ist möglicherweise nicht sein Ding, aber der Ausstrahlung dieser drastischen, bildgewaltigen und oft komischen Umsetzung kann auch er sich nicht entziehen.

Was ist an dieser Inszenierung rumgemeckert worden. Von „Mumpitz“ und „Schwachsinn“ war die Rede. Zum Ende der „Götterdämmerung“ im ersten Jahr wurde Castorf 15 Minuten lang ausgebuht, einige Wagnerianer hatten sogar extra Trillerpfeifen dabei. Im zweiten Jahr blies Castorf zum Generalangriff auf die Festspielleitung und beklagte im „Spiegel“-Interview, man versuche, seiner Arbeit alles Brisante zu nehmen: „Es ist Stadttheater in aller Schönheit entstanden. Furchtbar. Die Stürme haben sich gelegt, die Langeweile hat gesiegt.“

Nun, nach der ersten von drei letzten „Götterdämmerungen“, lobt Festspielchefin Katharina Wagner im dpa-Interview: „Castorf hat während der Arbeit am Ring im Sinne des Bayreuther Werkstattgedankens beharrlich und kontinuierlich weitergedacht. Er war dieses Jahr viel bei den Proben dabei. Ich finde auch, dass ,Siegfried' und ,Götterdämmerung' sich noch einmal enorm verdichtet haben, sie sind sehr intensiv geworden.“

 

Bayreuther Festspiele 2017 - Das Rheingold       -  Göttliches Gedränge im Motel: Caroline Wenborne (Freia, von links), Markus Eiche (Donner), Daniel Behle (Froh), Günther Groissböck (Fasolt), Tanja Ariane Baumgartner (Fricka), Karl-Heinz Lehner (Fafner), Iain Paterson (Wotan) und Roberto Sacca (Loge)
Foto: A4700/_Enrico Nawrath (Festspiele Bayreuth) | Göttliches Gedränge im Motel: Caroline Wenborne (Freia, von links), Markus Eiche (Donner), Daniel Behle (Froh), Günther Groissböck (Fasolt), Tanja Ariane Baumgartner (Fricka), Karl-Heinz Lehner (Fafner), Iain ...

Trillerpfeifen hat an diesem Donnerstag niemand dabei. Und als nach dem umjubelten Ensemble das Regieteam vor den Vorhang tritt, halten Bravos und Buhs einander mindestens die Waage. Schwer zu sagen, ob Castorf der ausdrückliche Jubel gefällt, der durchaus auch ihm gilt. Irgendwie schaut er säuerlich, aber das tut er ja immer.

Frank Castorfs Ansatz ist ebenso einfach wie einleuchtend: Er fragt, welcher Stoff heute ähnlich unbedingtes und zerstörerisches Begehren auslöst wie zu Wagners Zeit das Gold. Die Antwort lautet Öl, Erdöl, und er setzt sie im atemberaubenden Bühnenbild von Aleksandar Deniæ auf der Drehbühne mit nicht nur optisch überwältigender Wucht um.

 

Bayreuther Festspiele 2017 - Die Walküre       -  John Lundgren als Wotan in der „Walküre“.
Foto: A4700/_Enrico Nawrath (Festspiele Bayreuth) | John Lundgren als Wotan in der „Walküre“.

„Rheingold“ spielt in einem Motel an der Route 66, „Die Walküre“ auf einem Ölfeld im Kaukasus zu Wagners Zeit, „Siegfried“ am Berliner Alexanderplatz und „Götterdämmerung“ an der Wall Street (der Vergleich Walhall/Wall Street stammt übrigens von Wieland Wagner). Hinzu kommen ein Mount Rushmore mit den Köpfen von Marx, Lenin, Stalin und Mao, eine Dönerbude in Berliner Mauernähe und ein vielfach nutzbarer silberner Wohnwagen.

Wollte man beckmesserisch sein, man müsste den Traditionalisten zurufen, „was wollt ihr denn, es kommen doch Schwerter und Speere und Hammer und sogar ein Bärenfell vor?!“ Man käme freilich nicht durch damit, denn Castorf zeigt diese Devotionalien nur, um zu beweisen, dass er den Text kennt und dass ihm derlei Details schnuppe sind.

 

Bayreuther Festspiele 2017 - Götterdämmerung       -  Stefan Vinke (Siegfried) in „Götterdämmerung“.
Foto: A4700/_Enrico Nawrath (Festspiele Bayreuth) | Stefan Vinke (Siegfried) in „Götterdämmerung“.

Aber je besser der Besucher den Text kennt, desto mehr Spaß hat er an diesem „Ring“. Castorf führt einerseits die Sänger wie Schauspieler, die sich hitzige Wortgefechte liefern, andererseits verweigert er im Zweifelsfall immer naheliegendes Pathos. Etwa als Wotan und Brünnhilde zum versöhnenden Kuss ansetzen, Wotan diesen Kuss aber zum inzestuösen Übergriff macht. Oder als Brünnhilde und Siegfried endlich vereint sind, Siegfried aber den Waldvogel erst mal sexier findet.

Bei Castorf ist niemand beziehungsfähig, weil niemand in der Lage ist, mit seinen Emotionen umzugehen. Alle wollen immer alles, was bekanntlich nicht funktionieren kann. Vor allem aber: Der Regisseur lässt schicksalhafte Verwicklungen nicht als Entschuldigung für menschliche (oder eben göttliche) Unzulänglichkeiten gelten. Helden? Fehlanzeige. Tragische Helden? Erst recht Fehlanzeige. Alle selbst schuld.

Geiler Drecksack und genusssüchtige Dumpfbacke

Der Wotan im „Rheingold“ (herrlich skrupellos: Iain Paterson) ist ein geiler Drecksack, der sich gerade mit Freia, seiner Schwägerin, vergnügt, als seine Frau Fricka spricht: „Wotan! Gemahl! Erwache!“ Da passt es, dass sein Enkel Siegfried (idealer Wagnertenor: Stefan Vinke) eine genusssüchtige Dumpfbacke ist. Und es ist weiß Gott nicht Castorfs Erfindung, dass die betrogene Brünnhilde (grandios in ihrer zornigen Verletzlichkeit: Catherine Foster) Hagen (böse aus innerer Zerrissenheit: Stephen Milling) Siegfrieds Schwachstelle verrät.

Großartig agiert dieses Gezücht der Gierigen und der Fehlbaren (schließlich sind fast alle irgendwie miteinander verwandt) zur Musik eines ebenso entfesselt wie geschmeidig aufspielenden Orchesters unter dem altersweisen Marek Janowski. Dieser „Ring“ ist eine anrührende, lustige, überwältigende, beglückende und höchst beunruhigende Erfahrung. Wenn wir alle so sind wie diese Leute auf der Bühne (und die Anzeichen sind unübersehbar), dann gibt es wenig Hoffnung.

 
 
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