Samira Spiegel kann sich an keinen Moment in ihrem Leben erinnern, in dem nicht klar war, dass sie Musik machen wollte. Mit vier Jahren fing sie mit Klavier an. Ein Jahr später begleitete sie in einem Musikschulkonzert eine kleine Geigerin. Danach war sie um einen Wunsch reicher: Sie wollte selbst auch noch Geige lernen. "Wir dachten, das legt sich wieder", erzählt Samiras Mutter Irene Spiegel. "Aber sie hat ein Jahr lang so genervt, dass wir nachgegeben haben." Auch mit der Geige klappte es ziemlich gut, schnell landete Samira in der Frühförderklasse von Conrad von der Goltz an der Musikhochschule Würzburg. "Ich dachte, das sind alles Cracks", sagt Samiras Mutter, "aber doch meine Kinder nicht."
Wie sich zeigte, gehört Samira Spiegel aus Sulzthal im Landkreis Bad Kissingen, Jahrgang 1994, doch eher zu den Cracks. Inzwischen hat sie ihren Master in Geige. Nächste Station: der Master in Klavier bei Professorin Silke-Thora Matthies an der Musikhochschule Würzburg. Dann: Konzertexamen Geige bei Professor Eckhard Fischer an der Musikhochschule Detmold, das Gegenstück zur Promotion. Sie ist Stipendiatin mehrerer Stiftungen und hat etliche Preise gewonnen. Ihr Konzertkalender ist gut gefüllt. Als Solistin und als Kammermusikerin, mal auf der Geige, mal auf dem Klavier.
Zum ersten Mal hat sie beide Instrumente in einem Konzert vor einem Jahr gespielt, als sie den Musikpreis der Keck-Köppe-Stiftung des Universitätsbundes entgegennahm, der genau dies würdigte: ihre Doppelbegabung. Jetzt kommt die nächste Stufe: Im Rahmen der 51. Würzburger Bachtage wird Samira am 30. November Klavier und Geige in ein- und demselben Stück spielen – in der Auftragskomposition "Spukhafte Fernwirkung", die der junge schwedische Komponist Henrik Ajax für sie geschrieben hat. Ajax hat unter anderem in Würzburg studiert und lebt heute in München.
Ein Café in Würzburg. Samira hat gerade in "Musik publik", der Reihe der Mittagskonzerte der Hochschule für Musik, mit beängstigender Perfektion das aberwitzig schwere erste Klavierkonzert von Schostakowitsch gespielt. Mutter Irene hat zugehört und auf die Geige aufgepasst. Die beiden haben Zeit für einen Cappuccino, dann muss Samira weiter zur Probe mit ihrer Duopartnerin Nina Scheidmantel. Dort wird sie Geige spielen. Danach fährt sie für eine Nacht nach Detmold, Probe mit ihrem Klavierquintett.
"Mama macht sich immer Sorgen, dass ich zu viel mache", sagt Samira und grinst, "aber sie weiß nicht mal die Hälfte meiner Aktivitäten." Irene Spiegel seufzt. "Ich bin halt diszipliniert", sagt Samira. "Und gut organisiert." Konzerte und Programme plant sie Monate im Voraus. Das Schostakowitsch-Konzert, das sie ein paar Tage später mit dem Orchester Con Brio in der Neubaukirche aufführen wird, hat sie schon im Juni und Juli geübt, weil sie wusste, dass sie im November nicht viel Zeit dafür haben würde.
Was sie einmal erarbeitet hat, kann sie später hervorholen, ein wenig auffrischen und dann spielen. Es fällt ihr leicht, Stücke auswendig zu lernen, beim manuellen Part geht sie methodisch vor – Takt für Takt, jede Hand einzeln. Die Geigerin Samira profitiert vom Überblick über Struktur und Machart der Werke, den die Pianistin Samira hat. Die Pianistin lernt von der Geigerin, wie man auf dem Instrument singt. Der Pianist Cyprien Katsaris würdigte das im Meisterkurs beim Kissinger Sommer 2019: "Du spielst mit Liebe und Herz, du legst dein ganzes Wesen in diese Poesie. Das ist wundervoll."
Dass eine Person es auf beiden Instrumenten gleichermaßen zu professioneller Meisterschaft bringen kann, das übersteigt die Vorstellungskraft vieler Menschen. Für Samira ist dieses Vorurteil ein echtes Hindernis: "Früher haben Musiker doch auch viele Gebiete beherrscht. Man kann mir doch nicht absprechen, dass es funktioniert, bevor man mich gehört hat. Danach gerne."
So war es ein langer Kampf, bis die ewigen Stimmen "Du musst dich entscheiden" oder "Wie weit könntest du es bringen, wenn du dich auf ein Instrument beschränken würdest" verstummt sind. Jetzt hat sie zwei Lehrer, die voll hinter ihr stehen. "Ich kann halt nicht so viele Stücke einstudieren wie andere, die nur ein Instrument spielen. Aber ich weiß genau, woran ich arbeiten und was ich verbessern will."
Samira Spiegel übt acht bis neun Stunden am Tag. In der Regel je zur Hälfte Geige und Klavier. "Ich glaube nicht, dass ich neun Stunden am Tag nur Klavier üben könnte." Der fliegende Wechsel ist übrigens auch für sie nicht unproblematisch, zu unterschiedlich fühlen sich beide Instrumente an. Beim Klavier müssen Muskeln, Sehnen und Gelenke gut aufgewärmt sein, dann läuft es. Bei der Geige kommt es stärker auf haptische Vertrautheit an: "Ich muss mir jedes Mal den Zugang neu erarbeiten", sagt sie. "Das klappt mal besser, mal weniger gut."
Beim Konzert am 30. November wird sie deshalb die Pause nutzen, sich nochmal extra auf der Geige einzuspielen. In der ersten Hälfte spielt sie zwei virtuose Knaller auf dem Klavier: Liszts Phantasie und Fuge über B-A-C-H und Busonis Bearbeitung der Chaconne aus der d-Moll-Partita für Violine solo von Johann Sebastian Bach. Eben diese Partita wird sie nach der Pause auf der Geige spielen – inklusive der gefürchteten Chaconne.
Danach die Uraufführung: "Spukhafte Fernwirkung" ist ein ebenso magisches wie rhythmisches Stück für Klavier, Geige und Loop-Station. Also die Möglichkeit, Abschnitte live aufzunehmen und dann über Lautsprecher als Schleife abzuspielen. Um das zu steuern, hat Samira drei Pedale am Boden zur Verfügung – zusätzlich zu den Pedalen des Flügels. Sie wird zwischen den Instrumenten hin- und herwechseln und Klangschicht über Klangschicht legen und dann mit Unterstützung eines Tonmeisters das Geflecht wieder entwirren.
Der Titel des Werks bezieht sich auf ein von Albert Einstein entdecktes, angezweifeltes inzwischen aber bewiesenes Phänomen aus der Quantenphysik: Teilchen im Raum können augenblicklich aufeinander Einfluss nehmen, selbst wenn sie zu weit voneinander entfernt sind für eine Signalübertragung mit Lichtgeschwindigkeit. "Im Stück wird der Sinn des Titels offensichtlich", verspricht Samira Spiegel.
51. Bachtage Würzburg: Samira Spiegel spielt Werke für Klavier und Violine von Bach, Liszt, Busoni und Henrik Ajax. Samstag, 30. November, 11 Uhr, Toskanasaal der Residenz. Karten unter Tel. (0931) 6001 6000 oder (0931) 37-2398.