Wenn heute davon die Rede ist, Bach zu "entdecken", geht es meist um neue Forschungsergebnisse. Matthias Querbach, Leiter der Würzburger Bachtage, die heuer zum 51. Mal stattfinden, versteht darunter eher einen inneren Prozess - einen, der vor allem im Zuhörer stattfinden soll.
Frage: Herr Querbach, das Motto der kommenden Bachtage lautet "Bach entdecken". Was gibt es bei Bach denn noch zu entdecken?
Matthias Querbach: Wir zeigen, dass wir in der Tradition des großen Bach-Entdeckers Felix Mendelssohn Bartholdy stehen, der im 19. Jahrhundert die Matthäuspassion wieder aufgeführt hat. Wir machen deshalb Musik von Mendelssohn und Bach, aber nicht deren bekannteste Werke, sondern solche, die in der zweiten Reihe stehen: die Johannespassion von Bach und den "Paulus" von Mendelssohn.
Entdecken im Sinne von: Da gibt es einiges, was das Publikum noch nicht kennt?
Querbach: Naja, das würde ich jetzt nicht so sagen. Es gibt hunderte Aufnahmen von beiden Werken. Den Anspruch, dass wir etwas entdecken, was andere noch nicht entdeckt haben, den braucht man nicht mehr haben. Was aber ganz wichtig ist: Dass der Zuhörer etwas in sich entdeckt, durch die Musik. Dass er anders geht, als er gekommen ist. Dass er berührt wird von der Musik – die ja unglaublich kraftvoll ist.
Wenn man "Bach entdecken" im Sinne der Forschung interpretiert – es gibt ja jährlich neue Erkenntnisse oder zumindest Thesen zur Biografie, zur Aufführungspraxis, zu Bachs Persönlichkeit. Wieviel davon fließt ein?
Querbach: Ich bin daran sehr interessiert, ich lese viele Forschungsergebnisse. Aber ich möchte hier kein akustisches Museum errichten. Sondern ich möchte die Musik Bachs in die heutige Zeit bringen und den heutigen Zuhörer erreichen. Der kauft sich ein Ticket, damit er das hier hören kann, und davon soll er auch was haben. Und das Beste wäre, er würde etwas in sich selbst finden, was ihn anrührt.
Können Sie sich noch erinnern, als Bach Sie das erste Mal berührt hat?
Querbach: Ja, das war ganz stark bei Bachs Matthäuspassion, die ich zum ersten Mal mit elf oder zwölf Jahren live erlebt habe. Diese Wucht und diese Länge – ich war einfach nur platt. Ich komme aus einem Elternhaus, in dem von früh bis spät klassische Musik lief. Mein Vater hatte sooo eine Reihe Schallplatten (breitet die Arme aus). Sinfonien, Klavierkonzerte, Kantaten rauf und runter und natürlich auch die Oratorien.
Bach ist neben Mozart vielleicht der Komponist, dessen Bild am häufigsten neu definiert wird. Machen Sie selbst auch immer noch Entdeckungen?
Querbach: Ich mache dauernd Entdeckungen, ganz klar. Ich bin aufgewachsen mit dem Richter-Klang der späten 1960er Jahre, also diesem großen, dicken Sound, den Karl Richter in München damals pflegte. Bis ich mich dann in meiner Jugend- und Studienzeit damit beschäftigte, dass es auch noch etwas anderes gab – Nikolaus Harnoncourt und dann Gardiner und alle, die danach die historisch informierte Aufführungspraxis prägten. Ich denke, beides hat seine Berechtigung. Es sind unterschiedliche Klangwelten, die man da entdecken kann. Wir wissen nicht, wie Bach es damals gemacht hat. Natürlich mit dem damaligen Instrumentarium, aber wie gespielt wurde, wissen wir alle nicht. Nochmal: Wenn der Zuhörer berührt wird, ist es egal, mit welchem Instrumentarium ich komme.
Ich muss gestehen, dass ich es mir für unsere heutigen Ohren ziemlich schräg vorstelle, wie das damals klang.
Querbach: Wir haben heute unglaubliche Erwartungen. Das muss alles perfekt sein. Ich glaube nicht, dass das damals so stattgefunden hat. Bach haben damals nur sehr kleine Besetzungen zur Verfügung gestanden, er hat Woche für Woche neue Kantaten geschrieben, die dann in zwei, drei Tagen einstudiert werden mussten. Ich will nicht wissen, wie das geklungen hat. Wir merken es ja mit dem Bachchor: Die Werke sind teilweise wirklich schwer, und wenn dann auch noch der Anspruch dazu kommt, nicht nur die richtigen Noten zur vorgesehen Zeit zu musizieren, sondern sie auch mit einem bestimmten Affekt zu singen, muss man einiges an Zeit und Mühe einplanen. Andererseits: Vielleicht hatte man damals auch noch mehr Zeit für die schönen Dinge. Alles war übersichtlicher. Wenn man bedenkt, was damals alles entstanden ist – in der Malerei, in der Baukunst. Das ist gewaltig. Ich frage mich manchmal, was in zwei, drei Jahrhunderten noch von unseren heutigen Bauwerken Bestand haben wird. Die sind doch eher hässlich.
Viele Konzertreihen kämpfen mit Besucherrückgängen. Wie ergeht es den Bachtagen?
Querbach: Davon merken wir beim Festival nichts. Die großen Konzerte im vergangenen Jahr waren alle ausverkauft. Das war klasse. Ich denke, es gibt eine große Sehnsucht nach Schönem und Berührendem. In der evangelischen Kirche passiert es ja leicht, dass nur der Kopf bedient wird. Aber wir müssen auch das Gefühl der Menschen bedienen. Ich möchte versuchen, auch die Seele zum Klingen zu bringen. Wir führen bei den Bachtagen ja auch Kantaten während der beiden Festgottesdienste auf. Wenn der Prediger gut ist, dann bilden Liturgie und Musik eine Einheit, die ganz besonders tief berührt.
Ironischerweise ist Bach immer noch als der analytische, kalte Komponist verschrien. Der seine Werke mathematisch, nach zahlenmystischen Kriterien geschrieben hat.
Querbach: Ich finde es unglaublich spannend, das zu erforschen. Aber ich weiß nicht, ob man Bach damit gerecht wird. Es ist vielleicht eine zusätzliche Ebene, die er in seiner Genialität eben auch beherrschte. Aber ich denke, keiner der Konzerthörer wird hier anfangen zu zählen, während die Musik läuft. Aber nochmal: Bach ist in erster Linie ein spiritueller Komponist, das Geistliche steht für ihn ganz oben: "Soli Deo Gloria" – Gott allein sei Ehre, ist sein Motto.
Wenn wir uns aber Bach, dem spirituellen Musiker öffnen, müssen wir zugeben, dass es da eine magische Dimension gibt, die wir nicht entschlüsseln können.
Querbach: Es ist genau so – da gibt es eine Ebene, die wir spüren, die wir aber nicht greifen können. Und das ist das, was die Menschen im Konzert suchen und erwarten. Im Gegensatz zur CD, die sie zuhause anhören. Die Musiker können noch so gut sein, aber es ist etwas anderes, wenn ich dieselben Musiker live erlebe.