Sechs Jahre hat Angelika Relin gebraucht, bis sie die Kraft fand, die Räume wieder zu betreten, in denen immer noch der würzige Duft von Veit Relins Pfeifen und Zigarren hängt. Zumindest für längere Aufenthalte und ohne Panikattacken. Weil hier, im Atelieranwesen in Winterhausen (Lkr. Würzburg), der Verlust für sie am stärksten zu spüren ist.
Nun stellt sich Angelika Relin der zweiten großen Aufgabe, die ihr nach dem Tod ihres Mannes 2013 zugefallen ist: Das Torturmtheater Sommerhausen leitet sie jetzt in der siebten Saison, das malerische Werk Veit Relins hingegen lag erstmal brach. "Es war alles so entrissen", sagt Angelika Relin (62), "aber ich habe ihm versprochen, mich darum zu kümmern. Also gehe ich das jetzt an."
So wird es wieder eine Ausstellung geben: Am 22. September wird im MühlenForum in Glattbach (Lkr. Aschaffenburg) "Relin - Akte" eröffnet. Die Auswahl orientiert sich an der großen Retrospektive "Das Japanpapier frisst sinnlich meine Tusche", die 2006 in Schweinfurt zu sehen war, aber Relin wird auch einige andere Blätter zeigen.
In den über 30 gemeinsamen Jahren hat sie immer Veit Relins Ausstellungen kuratiert: "Dieses Nachschöpferische hat mir immer viel Spaß gemacht. Wenn ein Blatt fertig war, war es fertig. Das Thema Ausstellung oder Katalog hat Veit dann nicht mehr interessiert. Der saß lieber da und hat Leute gezeichnet."
Veit Relin wollte nach Jahren intensiver Theaterarbeit wieder in Öl malen und brauchte Platz
Ortstermin in Winterhausen. Ein ehemaliges bäuerliches Anwesen im Altort. Wohnhaus und Scheune bilden einen rechten Winkel um einen kleinen gepflasterten Hof. Links wächst halbhohes Grünzeug. 1975 hatte Veit Relin die Leitung des Torturmtheaters in Sommerhausen übernommen, 1980 zogen er und Angelika ebenda in einen renovierten ehemaligen Kirchturm am Rand des Altortes. Winterhausen kam erst 1991 dazu – Veit Relin wollte nach Jahren intensiver Theaterarbeit wieder in Öl malen und brauchte Platz. "Für mich fühlt sich das hier immer noch neu an", sagt Angelika Relin.
Winterhausen war Zweitwohnsitz, Arbeitsstätte und Rückzugsort. "Wir sind meistens nachmittags von Sommerhausen herüberkommen, Veit hat gemalt, ich bin meinen Beschäftigungen nachgegangen, und irgendwann nachts sind wir dann wieder rüber in den Turm gefahren", erzählt Angelika Relin. "Dabei hatten wir immer einen Korb dabei, mit Verpflegung und was wir sonst so brauchten. Und immer hatten wir etwas Wichtiges vergessen."
Wer hier saubermacht, hat die strenge Auflage, nichts zu verändern
In fünf Bauphasen haben die beiden das Winterhäuser Anwesen hergerichtet. Aus der Scheune wurde ein großer Galerie-Raum, eine weitere Ausstellungsmöglichkeit entstand im ehemaligen Stall. Es gibt eine Küche vorn im Wohnhaus, ein großes Schlafzimmer mit Bad und Sauna, einen behaglichen Wohnraum mit Ledersofa und offenem Dachstuhl.
Herz des Hauses aber ist das Atelier, ein großer, hoher, heller Eckraum mit steilem Dachfenster. "Das ist keine Nordseite, also kein ideales Licht, aber das war dem Veit egal", sagt Angelika Relin. Ihr ist der große Ofen gewidmet, dessen Kacheln Veit Relin nach ihren Wünschen bemalte und dann brennen ließ. "Dieser Ofen gehört meinem Gelei, das ich über alles in der Welt liebe!", steht bunt auf einer der Kacheln. Auf den meisten Ablageflächen drängen sich Krüge, in denen Büschel von Pinseln stehen wie dicht gebundene Blumensträuße, an einem weißgetünchten Balken hängen an Nägeln Paletten mit längst eingetrockneten Farben.
Wer hier saubermacht, hat die strenge Auflage, nichts zu verändern. So kommt es, dass auf dem gläsernen (von Veit Relin hinterglasbemalten) Couchtisch noch die Schalen mit den Pfeifen stehen und auf einem Schemel neben der Staffelei ein Aschenbecher mit vier Zigarillo-Stummeln.
Auf der Staffelei nicht etwa ein unvollendetes Blatt, sondern ein Schwarzweiß-Foto von Oskar Kokoschka (1886-1980). Zu OK, wie sie ihn nannten, erzählt Angelika Relin eine der unzähligen Geschichten aus dem Leben des Veit Relin. Der betrieb während und nach seiner Zeit als Burgschauspieler von 1960 bis 1967 das Ateliertheater am Wiener Naschmarkt, das mit deutschen Erstaufführungen der Stücke von Boris Vian, Jean Genet, Edward Albee oder Edward Bond für Verstörung und Furore sorgte.
Oskar Kokoschka drohte, nie wieder österreichischen Boden zu betreten
Nun hatte OK selbst ein Stück geschrieben – "Orpheus und Eurydike" –, dazu ein Bühnenbild entworfen und wollte, dass es im Ateliertheater gespielt würde. Das aber bekam keine Zuschüsse, weswegen OK Relin riet: Der Theaterchef solle mit der Mappe der Bühnenbild-Skizzen beim Unterrichtsminister vorstellig werden und verkünden, dass Oskar Kokoschka nie wieder österreichischen Boden betreten werde, sollte sein Stück nicht bezuschusst werden. "Es hat funktioniert", sagt Angelika Relin, "und das Stück wurde im Original-Bühnenbild von OK uraufgeführt."
Und überall stößt man in Relins Anwesen natürlich auf Kunst. Zeichenmappen, gerahmte Bilder, Skizzenbücher liegen auf Tischen und Kommoden, ruhen in Schubladen, lehnen an Tischbeinen. Jeder Quadratzentimeter Wand ist behängt mit gerahmten Zeichnungen und Aquarellen – auch sie ausgewählt und zusammengestellt von Angelika Relin.
Es sind Akte und Porträts von Freunden, Weggefährten, Gästen, ältere und jüngere Arbeiten. Ein Bildnis des österreichischen Kulturpolitikers und Schriftstellers Viktor Matejka (1901-1993) etwa, der einst ein großer Fan des Ateliertheaters war und dort alle hinschickte, die in den miefigen 1960er Jahren "trotz der damaligen Stickluft frei atmen wollten", wie er im Vorwort zu einem Ausstellungskatalog schrieb.
Auch das letzte Modell von Gustav Klimt hat Veit Relin porträtiert
Oder Johanna Staude (1883-1967), das letzte Modell von Gustav Klimt. Oder der Würzburger Maler Joachim Schlotterbeck (1926-2007) – genannt Schlo –, mit dem Veit Relin eine lebenslange Freundschaft verband. Oder der notorisch bildscheue Autor Patrick Süskind. Oder die Dame aus Fürth, die keine Premiere im Torturmtheater verpasste und Veit Relin noch mit über 90 als Akt Modell saß. Angelika Relin: "Sie war unheimlich stolz hinterher. Niemand kommt hier ungezeichnet heraus, haben wir immer gesagt."
In den Mappen schlummern unzählige Porträts prominenter und weniger prominenter Besucher. Zu jedem hat Angelika Relin eine Geschichte zu erzählen, mal mehr mal weniger schmeichelhaft. Nie aber hat Veit Relin seine Modelle zeichnerisch denunziert. Entlarvt möglicherweise schon, denn sein Strich gibt nicht nur optische Eindrücke wieder. Für manche Porträtierten war deshalb das Resultat überraschend. ",Da wächst du noch rein', hat der Veit dann gesagt. Und immer Recht behalten", erzählt Angelika Relin.
Nur einer hat sich – vielleicht deshalb – nicht getraut und beharrlich gegen das Gezeichnetwerden gesperrt, ein wichtiger Fernsehmann. Und nur einer hat sich als unzeichenbar erwiesen: Robert Lembke. "Der wollte ohne seine charakteristische dicke schwarze Brille porträtiert werden. Aber als er die abgenommen hatte, ging es plötzlich nicht mehr..."
Veit Relins häufigstes Modell aber war Angelika Relin selbst. Sie schildert die Sitzungen als zutiefst sinnliche, ja erotische Erlebnisse: "Ich habe immer gespürt, wo er gerade an meinem Körper entlang zeichnet. Und da haben sich dann wohlig die Haare aufgestellt."