
Die Kollegen mit den Instrumenten dürfen seit 8. Juni wieder proben, die Chöre weiterhin nicht. Zu gefährlich. Die Chöre sind damit endgültig die Schlusslichter des kulturellen Öffnungsfahrplans. "Das Schlimmste ist das Fehlen jeglicher Perspektive", sagt Matthias Querbach, Kantor der Würzburger St. Johanniskirche, Leiter des Würzburger Bachchors und des Regerchors Braunschweig. Querbach verfolgt zwar die Nachrichten und liest Studien, insbesondere die über Tröpfcheninfektionen und Aerosole. "Aber es bringt ja nichts, wir können alle nichts machen." Im Zweifel würde er sich ohnehin immer für größtmögliche Sicherheit entscheiden: "Ich will ja niemanden in Gefahr bringen."
Seit März darf nicht mehr geprobt werden, die gemeinsame Arbeit fehlt den Sängerinnen und Sängern ebenso wie dem Chorleiter: "Das ist mein Herzblut." Übers Telefon und über die Online-Plattform Zoom bleibt er mit möglichst vielen in Kontakt, zum gemeinsamen Proben taugt das Internet allerdings nicht: "Die Latenzzeiten, also die Verzögerungen sind einfach zu groß. Das bekommen Sie nie so zusammen, dass gleichzeitiges Musizieren möglich wäre."
Das Internet kann für Matthias Querbach die Live-Probe nicht ersetzen
So suchen derzeit alle händeringend nach einer besser geeigneten Software, gefunden hat sie noch niemand. Damit die Stimmen nicht vollkommen aus dem Training geraten, hat Querbach einen Kanon als Playback aufgenommen, zu dem die Sängerinnen und Sänger ihrerseits ihre Stimme einsingen sollen. Die einzelnen Tondateien will der Chorleiter dann am Rechner übereinander legen. Für die Bachtage im November wäre Bachs Magnificat geplant, kein Werk, das man mal eben in vier Wochen einstudiert. Wenn das mit dem Kanon klappt, will Querbach den ersten Satz des Magnificat nach demselben Muster virtuell einspielen.

All das könne aber nie das Gemeinschaftserlebnis Chor ersetzen: "Präsenz ist etwas ganz anderes." Wie groß die Sehnsucht nach Singen ist, merkt Matthias Querbach an den Besucherzahlen seines Youtube-Kanals. Dort bietet er seit Mitte Mai zweimal die Woche Stimmbildung live an – daheim am Flügel, alleine vor der Kamera: "Das ist schon ein schräges Gefühl." Aber es funktioniert: Schon in der ersten Woche haben 1300 Sänger mitgemacht. "Das ist überwältigend. Ich hätte nie gedacht, dass da so ein Bedarf ist."
Wie Querbach stellt auch Andrea Balzer, Kantorin von St. Johannis in Schweinfurt, angesichts der vor dem Laptop verbrachten Zeiten eine zumindest zeitweilige Verlagerung ihrer Kompetenzen fest: "Ich übe mich in neuen Techniken", sagt die Kirchenmusikdirektorin, die neben der Kantorei auch den preisgekrönten Mädchenchor Junge Stimmen leitet, ein Ensemble, dem junge Sängerinnen aus dem gesamten nordbayerischen Raum angehören.
Sie hat die Mitglieder der Kantorei mit Aufgaben eingedeckt, mit Noten zu Stücken vieler Epochen, dazu die Klavierparts eingespielt und die jeweilige Stimme eingesungen. Die Sängerinnen und Sänger sind nun aufgerufen, ihrerseits ihre Stimme per Video aufzunehmen und zurückzuschicken. "Und ich versuche dann, das zusammenzuschneiden." Die Software erlaube es, rhythmische und intonatorische Ausrutscher zu korrigieren. "Es macht Spaß, das mal zu machen, das hält uns zusammen", sagt Balzer. "Aber das Adrenalin der gemeinsamen Probe kann es nicht ersetzen."
Singen mit Maske kommt für Andrea Balzer nicht in Frage
Immerhin ein Drittel des Chors mache mit. Bei der Kinderkantorei seien die Rückmeldungen zögerlicher. "Die Eltern sind einfach überfrachtet mit den Aufgaben, die die Schulen den Kindern stellen", sagt Balzer, selbst Mutter eines Fünftklässlers im Gymnasium. "Ich selbst habe natürlich mehr Zeit, weil ich keine Abendtermine habe, aber mit dem Homeschooling war auch ich ganz gut ausgelastet." Den hin und wieder zu hörenden Vorschlag, man könne doch mit Maske singen, hält Balzer für eine Zumutung: "Ich habe ja schon in der Metzgerei Schwierigkeiten, mich mit Maske verständlich zu machen. Und beim Singen geht es um Öffnung, um freies Atmen, um Weite. Das ist mit Maske undenkbar."

Längst haben sich auch die Verbände zu Wort gemeldet – mit Pressemitteilungen und Offenen Briefen, zuletzt der Bayerische, der Fränkische und der Maintal-Sängerbund und der Chorverband Bayerisch-Schwaben mit einem Brandbrief an die bayerische Staatsregierung, in dem sie darauf hinweisen, dass in Baden-Württemberg und Hessen Proben bereits wieder erlaubt sind.
Sängerbund-Präsident Hermann Arnold kann sich Proben im Freien vorstellen
Hermann Arnold, Präsident des Maintal-Sängerbunds und Präsidiumsmitglied im Bayerischen Musikrat, könnte sich gerade in der warmen Jahreszeit Chorproben durchaus vorstellen – unter Einhaltung aller Regeln, draußen oder in großen Kirchen. Man müsse auch untersuchen, wie die Ansteckungen bei den oft als abschreckende Beispiele genannten Chören in Amsterdam oder den USA tatsächlich stattgefunden hätten: "Ist das beim Singen passiert oder beim Begrüßungsritual?"
Der Maintal-Sängerbund ist einer von vier Chorverbänden in Bayern und Dachorganisation von 175 Gesangvereinen und damit mehr als 10 000 Sängerinnen und Sängern im westlichen Unterfranken. Viele vereinsmäßig organisierte Chöre hätten bei wegfallenden Einnahmen aus Konzerten oder Festen Probleme mit der Versorgung ihrer freiberuflichen Dirigenten, so Arnold. "Es gibt den Vorschlag, weiter zu bezahlen und den Ausfall später mit Sonderproben auszugleichen", sagt Arnold. Das Problem: "Viele Dirigenten leiten mehrere Chöre, die würden das zeitlich gar nicht hinkriegen." Arnold, selbst Chorleiter, würde sich deshalb wünschen, dass die Kommunen die Chöre unterstützen.

Der Kirchenmusiker Matthias Göttemann leitet den Würzburger Oratorienchor und den Schweinfurter Liederkranz. Er ist einerseits durch seine Stelle als Dekanatskantor im Dekanat Rügheim in den Haßbergen abgesichert, andererseits dankbar, dass beide Chöre sein Honorar durchbezahlen. Er weiß aber von Kollegen, die pro Probe bezahlt werden und inzwischen Schwierigkeiten haben, ihre Miete zu bezahlen. "Es fallen ja auch alle Konzerthonorare weg", sagt Göttemann.
Matthias Göttemann fragt nach der Verhältnismäßigkeit der Verbote
Täglich diskutiert er mit seinen Chormitgliedern, schaut er sich die Corona-Zahlen an, informiert er sich über Forschungsergebnisse. "In dieser Zeit hätte ich zehn Chorproben halten können." Die "Vollbremsung" des kulturellen Lebens in der akuten Phase hat er verstanden und mitgetragen. Was er nicht mehr versteht, sind Geisterspiele und geschlossene Kitas. Und warum die Erwachsenenbildung, also das Chorsingen, im Vergleich zu anderen Bereichen so benachteiligt werde. "Ich weiß sehr wohl, dass Chöre gefährlich sind. Aber man könnte doch wenigstens Treffen in kleinen Gruppen ermöglichen, in denen Anleitung zum Selbststudium gegeben wird. Das wäre dann besser als nichts."
Matthias Göttemann stellt die Frage nach der Verhältnismäßigkeit der Verbote und verweist auf Thüringen, wo die Verbote demnächst Empfehlungen weichen sollen. Ihm fehlen positive Impulse der Politik ebenso wie eine Perspektive für die Zukunft. "Es wäre jetzt wichtig, Zuversicht zu vermitteln und Angst zu nehmen. Denn wenn die Angst bleibt und die Menschen nicht mehr in unsere Konzerte kommen, werden wir noch lange nach der eigentlichen Krise Probleme haben."