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WÜRZBURG
Spezialeinheit für ungelöste Morde?
Manfred Schweidler
 |  aktualisiert: 07.04.2020 11:46 Uhr

Fast 30 Jahre wähnte sich der Mörder in Unterfranken sicher: Er hatte eine 22-Jährige vergewaltigt, auf sie eingestochen und die totgeglaubte junge Frau schließlich in einem Waldstück in Aschaffenburg verscharrt. Trotz Großfahndung und Belohnung führte zunächst keine Spur zum Täter.

Nach 30 Jahren erwischt

Viele Jahre blieb der Fall ungelöst. Doch 2015 nahmen sich unterfränkische Mordermittler den so genannten „Cold Case“ noch einmal vor – und konnten dank winziger DNA-Spuren, die nun verwertbar waren, die Fährte wieder aufnehmen Im Oktober 2017 fasste sie den mutmaßlichen Täter. Der gestand zwar die (inzwischen verjährte) Vergewaltigung, leugnet aber den versuchten Mord. Seit dem 22. Mai steht der Verdächtige in Aschaffenburg vor Gericht.

Geklärte Fälle quer durch Deutschland

Fast im Wochentakt gibt es derzeit ähnliche Erfolgs-Meldungen über nach Jahren geklärte alte Mordfälle quer durch Deutschland: In Weimar klärte vor kurzem eine eigens eingerichtete Sonderkommision den Mord an der 1991 verschwundenen, damals zehnjährigen Stephanie. Nun hofft die Kripo, zwei weitere Morde an Kindern klären zu können.

Spektakuläre Aufklärung in Privatinitiative

Besonders bemerkenswert ist der Fall des Göhrde-Mörders in Niedersachsen. Ihn fand der pensionierte LKA-Chef von Hamburg, Wolfgang Sielaff fast im Alleingang bei der jahrelangen Suche nach seiner 1989 spurlos verschwundenen Schwester. Im vorigen Jahr entdeckte ein Grabungsteam ihre Leiche, einbetoniert in den Boden einer Garage im Haus des mutmaßlichen Täters. Heute geht die Polizei davon aus, dass er vor rund 30 Jahren auch zwei Liebespaare in der Göhrde – einem Naherholungsgebiet bei Lüneburg – ermordet hat, möglicherweise mit Hilfe eines bisher unbekannten Komplizen.

Inzwischen prüfen Mordermittler auch in der Region zwischen Main und Neckar, ob sie so auf die Spur eines Serienkiller gekommen sind, der vor 30 Jahren junge Anhalterinnen ermordet und so gut versteckt hat, dass sie bis heute nicht gefunden wurden. Sie nehmen 24 weitere Fälle unter die Lupe. Der Verdächtige, der sich in Untersuchungshaft erhängte, hatte zeitweise im Raum Heilbronn gelebt.

Geklärte Fälle in Unterfranken

Auch in Unterfranken können sich Mörder nach Jahrzehnten nicht sicher sein, mit ihren Verbrechen ungeschoren davonzukommen. Ein Fetzen Klebeband zum Fesseln (in einem Baumarkt gekauft) überführte 2007 am Landgericht Würzburg einen Täter – sechs Jahre nach dem gewaltsamen Tod der Anhalterin Magdalena Heinrich. DNA-Spuren an einem Stoffstück vom Tatort wurden 2001 einem Vergewaltiger in Rechtenbach bei Lohr (Lkr. Main-Spessart) zum Verderben – elf Jahre nach der Tat.

185 ungeklärte Fälle in Bayern

In Bayern weist die Polizei jedes Jahr stolz darauf hin, dass über 90 Prozent aller Morddelikte geklärt werden. Aber auf Nachfrage bestätigt das Innenministerium zu den sogenannten Cold Cases: Derzeit gelten mindestens 185 Fälle im Freistaat ungeklärt, die in den vergangenen 30 Jahren passiert sind, darunter 85 Mordversuche. Natürlich könnten weitere dazukommen, die bisher beispielsweise als Vermisstenfall oder natürliche Todesursache geführt werden.

Seltene Nebenbeschäftigung

Aber wann wird ein Fall nach Jahren wieder aufgegriffen und wann verstaubt er ungeklärt im Archiv? Offizielles Credo von Polizei und Staatsanwaltschaft ist zwar: „Mord verjährt nie.“ Aber tatsächlich können sich Mordermittler oft nur dann um einen Altfall kümmern, wenn gerade kein aktueller Mord alle Kräfte bindet – also nur selten. „Und natürlich hängt es vielfach am Ehrgeiz und Sachverstand einzelner Ermittler, ob sie sich noch einmal und immer wieder in den Fall verbeißen oder die Akte irgendwann resigniert wieder weglegen“, gibt ein langjähriger Kripomann zu.

Zwar liegt die Aufklärungsquote bei Mord hier bei rund 95 Prozent. Doch die Rechnung ist einfach: Von den bundesweit etwa 300 als Mord identifizierten Todesfällen pro Jahr, bleiben zehn bis 20 ungelöst. Über die Jahre hinweg sammeln sich so Hunderte von Fällen an – die bisher gar nicht erst erkannten Fälle noch nicht eingerechnet.

Neue Sicht auf die Spuren

„Der Fortschritt der Wissenschaft gerade bei der Auswertung winziger, vielleicht unvollständiger DNA-Spuren ist in solchen Fällen unglaublich hilfreich für uns,“ sagt ein anderer Mordermittler. „Nach Jahren können wir plötzlich winzige Spuren zuordnen, mit denen wir ursprünglich nichts anfangen konnten.“ Bisweilen brechen auch Zeugen des Verbrechens oder Vertraute der Täter ihre Schweigen. Manchmal hilft es, wenn ein neuer Sachbearbeiter nach Jahren noch einmal mit unverstelltem Blick auf die Ermittlungen schaut – und möglicherweise einen Ansatz findet, der bisher übersehen wurde.

Professioneller aufklären

Doch längst plädiert die Führungsebene der Ermittler und die Gewerkschaften der Polizei und Kripo dafür, die Aufklärung der Cold Cases professioneller anzugehen. „Wir sind es den Opfern und ihren Angehörigen schuldig. Man muss sich nur einmal ansehen, wie beispielsweise die Eltern der 2005 in Australien getöteten Simone Strobel aus Unterfranken unter der Ungewissheit leiden. Da ist man verpflichtet, alles zu tun, um den Täter zu fassen“, sagt ein Mordermittler aus Unterfranken, der den Fall ebenso gut kennt wie den der ermordeten Sabine Back aus Wiesenfeld (Lkr. Main Spessart) und ein Dutzend weiterer Fälle.

Eigene Datenbank

Andere Bundesländer machen es vor: Das Landeskriminalamt von Nordrhein-Westfalen baut nach WDR-Informationen eine Datenbank zur Klärung ungelöster Mordfälle auf. In dieser sogenannten Cold-Case-Datenbank sollen Akten selbst aus den 1970er-Jahren noch erfasst werden. Dabei geht es um eine systematische Analyse dieser archivierten Fälle und auch darum, mögliche Parallelen abzugleichen.

In Hamburg hat LKA-Chef Frank-Martin Heise im Herbst 2016 eine eigene Cold-Cases-Einheit gegründet, um zu zeigen, „dass Getötete, Vermisste und deren Angehörige in Hamburg eine Lobby haben“. Kiel hat seit Ende 2015 eine ähnliche Einheit, ebenso Frankfurt. In Brandenburg und Berlin sind Cold-Case-Einheiten das Thema.

Bayern als Schlusslicht?

Doch Bayern tut sich schwer damit. Dabei hatten hier schon 2015 hohe Polizeiführer in einer Arbeitsgruppe die Schaffung einer Cold-Case-Einheit vorgeschlagen, wie damals der Leiter Verbrechensbekämpfung beim Polizeipräsidium Unterfranken, Wolfgang Geier, dieser Redaktion bestätigt hatte. Die Arbeitsgruppe sollte sich Gedanken darüber machen, welche Lehren aus den Ermittlungspannen und Versäumnissen bei der Aufklärung der rechtsextremen NSU-Morde zu ziehen sind.

Vorschlag verstaubt im Ministerium

Doch der Verbesserungsvorschlag liegt seit drei Jahren im Innenministerium und setzt Staub an. Auf Anfrage erfuhr unsere Redaktion, dass Bayerns Innenminister Joachim Herrmann dem Vorbild anderer Bundesländer nicht folgen will: „Die Bearbeitung von Altfällen hat bei der Bayerische Polizei seit vielen Jahren einen sehr hohen Stellenwert“, versichert ein Sprecher des Ministeriums. Alle Präsidien nähmen bereits eine wiederkehrende Altfallüberprüfung im Sinne des „Cold-Case-Managements“ vor – mit anderen Worten: Alles soll so bleiben, wie es ist.

Abstimmungen laufen noch

Auf konkrete Frage dieser Redaktion nach dem Verbesserungsvorschlag bestätigt das Ministerium, dass sich die Arbeitsgruppe „allgemein mit Vorschlägen zur weiteren Optimierung bei der professionellen und qualitätsgesicherten Bearbeitung herausragender Kapitaldelikte befasste“. Unter anderem gehe es um die Einrichtung einer zentralen Dienststelle bei der Bayerischen Polizei zur Beratung der Sonderkommissionen vor Ort. „Die dazu erforderlichen organisatorischen Abstimmungen zwischen den Polizeiverbänden laufen derzeit noch.“

Spektakuläre Fälle in Unterfranken

Nahezu 100 Prozent aller Tötungsdelikte in Unterfranken werden aufgeklärt. Dennoch gibt es immer wieder Fälle, die den Ermittlern Rätsel aufgeben und in denen die Täter zunächst nicht gefunden werden. Manchmal gelingt die Lösung erst nach Jahren.

Einer der mysteriösen Fälle, die auf Aufklärung warten, ist der Thallium-Giftanschlag auf Würzburger Studenten 1983. Mehrfach stellte der Täter Flaschen mit Gift in Bier und Saft auf – nahe einem Hörsaal und am Eingang eines Studentenwohnheimes. Zwölf Opfer erlitten schreckliche Qualen und teilweise bleibende Schäden. Der 24-jährige Robert A. starb, der 21-jährige Peter S. wurde zum Invaliden.

Was trieb den Täter – ein missglückter Streich? Die Polizei will diese Möglichkeit bis heute nicht ausschließen. Denn kurz zuvor war in einer Fachzeitschrift ein Aufsatz erschienen, der die Wirkung des Gifts stark verharmloste. Angeblich fielen den Opfern nur die Haare aus.

Doch mit dieser These kamen die Mordermittler ebenso nicht weiter. 25 Jahre später fokussierte sich der Verdacht auf den ehemaligen Würzburger Arzt Wolfgang R., der zweimal nacheinander wegen anderer Morde aus Habgier zu hohen Haftstrafen verurteilt wurde – und gegenüber einer Ex-Freundin dunkle Andeutungen über den Thallium-Fall gemacht hatte. Als die Ermittler dies 2009 erfuhren, befragten sie ihn. Da präsentierte der Mann, in dessen Umfeld es 1983 ebenfalls auffallende Vergiftungserscheinungen gegeben hatte, ein Alibi, das nicht zu wiederlegen war.

Eine Reihe weiterer Cold Cases lässt unterfränkischen Ermittlern keine Ruhe: Wer ermordete 2005 in Australien Simone Strobel aus Rieden (Lkr. Würzburg)? Wohin verschwand 2005 Brigitte Volkert aus Burgsinn (Lkr. Main-Spessart)? Wer hat 1990 in Würzburg die junge Irin Sharon Harper missbraucht und in der Nähe des Tierheimes ermordet? Wem war 1986 Evelyn Höbler in Veitshöchheim (Lkr. Würzburg) so lästig, dass er sie in der Nähe der Kaserne ermordete? Und wer glaubt bis heute, für den Mord an der Geschäftsfrau Waltraud Ess in Bad Neustadt 1993 ungestraft davonzukommen, die in der eigenen Wohnung überfallen, gefesselt und am Türgriff erhängt wurde?

 
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Kommentare
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  • ManfredSchweidler
    Arcus, Sie können natürlich über die Morde spekulieren, die durch fehlende Obduktion entwischen. Sie können auch im Blick haben, das sich mancher vermisstenfall erst lange hinterher als Mord herausstellt. Aber 185 gesicherte Fälle in Bayern, an deren gewaltsamem Ableben kein Zweifel besteht, sind doch schon genug Anlass für die Optimierung der Ermittlung, oder nicht?
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  • Arcus
    Die Aufklärung bei Mord beträgt keine 95%. Mir wird immer gesagt, dass es mindestens doppelte soviel Morde gibt als die Statistik ausweist. Sie werden nur nicht erkannt. So wie ich die Leichenschau erlebt habe, auch kein Wunder.
    Das Könnte der Gesetzgeber ändern. Tut er aber nicht.
    Wenn die Aufklärungsquote bei einer vernünftigen Leichenschau immer noch so hoch wäre, dann wäre das wirklich gut.
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