Zwölf 0,5-Liter-Flaschen Bier, 350 Milliliter Wein, ein halber Liter Wodka. Was der Angeklagte vor seiner Tat im Jahr 1988 getrunken haben soll, hätte andere in die Notaufnahme gebracht, meint die rechtsmedizinische Sachverständige. Am dritten Verhandlungstag im Prozess gegen Jürgen R., der eine damals 22-Jährige in Aschaffenburg vergewaltigt und anschließend versucht haben soll, sie zu töten, ging es um die Frage seiner Schuldfähigkeit. Die ist aus Expertensicht eindeutig beantwortet.
Wie viel Promille der heute 55-Jährige in jener Januarnacht vor 30 Jahren im Blut hatte, lässt sich heute nur schwer sagen. Zu viele Faktoren spielen eine Rolle, wie Rechtsmedizinerin Ulla Schäfer im Landgericht Aschaffenburg erklärt. Gegen 12 Uhr soll der Angeklagte am Tattag mit dem Trinken begonnen und nach 22 Uhr damit aufgehört haben. Aber wie schnell hat der damals etwa 70 Kilo schwere und 1,70 Meter große Mann getrunken? Und in welcher Reihenfolge? Was hat er gegessen? „Die Schwankungsbreite ist sehr groß“, so Schäfer. Man könne aber „zum unmittelbaren Tatzeitpunkt“ um 4.30 Uhr mit etwa vier Promille rechnen. Vielleicht auch mit weniger.
Bild eines verpfuschten Lebens
Von einem ähnlichen Wert geht Professor Henning Saß aus, der von 3,7 bis 4,0 Promille spricht. Der Psychiater, der bereits im NSU-Prozess ein Gutachten über die Schuldfähigkeit der mutmaßlichen Rechtsterroristin Beate Zschäpe erstellt hatte, hat Jürgen R. im April untersucht.
Als Saß über die Biografie des Angeklagten spricht, zeichnet er das tragische Bild eines „verpfuschten Lebens“. Als Jürgen R. drei oder vier Jahre alt ist, trennen sich die Eltern; Grund ist die Alkoholsucht des Vaters, zu dem er aber ein besseres Verhältnis als zur Mutter hat. Sein Stiefvater – ebenfalls Alkoholiker – schlägt ihn, mit Unterstützung des Jugendamtes zieht er mit etwa 14 zu seinem leiblichen Vater, wo er „sämtliche Freiheiten“ hat. In diese Zeit fällt auch seine erste Alkoholvergiftung.
Neun Mal erfolglos auf Entzug
Einen Schulabschluss macht Jürgen R. genauso wenig wie eine Ausbildung. Unter anderem schlägt er sich als Pizzabäcker, Maler oder Holzfäller durch. 16 Arbeitsstellen soll R. gehabt haben, nur bei dreien blieb er länger als ein Jahr.
Das Thema Sucht zieht sich dagegen dauerhaft durch sein Leben. Seine inzwischen verstorbene Schwester war drogenabhängig, sein Bruder erlag den Folgen einer Heroinsucht. R. selbst leidet laut Saß an einer schweren chronischen Alkoholkrankheit, die ihn nicht nur mehrfach in die Notaufnahme brachte, sondern auch immer wieder in Spezialkliniken. Die erste Entgiftung macht der Angeklagte 1990 in Aschaffenburg. Ab 1996 ist er jedes Jahr immer wieder zu längeren oder kürzeren Aufenthalten, vor allem in den Kliniken in Lohr (Lkr. Main-Spessart) und Werneck (Lkr. Schweinfurt). Insgesamt kommen 30 Entgiftungsbehandlungen und neun erfolglose Entzugsaufenthalte zusammen.
Untersuchung von 2005 lässt Rückschlüsse auf 1988 zu
In Lohr lernt er 1996/97 auch seine heutige Ex-Frau kennen, die im Prozess bereits ausgesagt hat. 2004 vergewaltigt er sie, damals hat er knapp vier Promille Alkohol im Blut. 2005 wird er zu einer Bewährungsstrafe verurteilt.
Im Rahmen dieses Prozesses wird er in Würzburg psychiatrisch untersucht. Das Ergebnis damals: Keine nennenswerte alkoholtoxische Schädigung der Hirnfunktion. Für Gutachter Saß ein wichtiger Hinweis, denn daraus lassen sich Rückschlüsse auf die Schuldfähigkeit des Angeklagten im Jahr 1988 ziehen: Wenn 2005 keine dauerhafte Schädigung festgestellt worden sei, habe auch 1988 keine Beeinträchtigung vorgelegen.
Unterschied zwischen zwei Vergewaltigungen
Am Tattag haber er zudem „bedacht und vorbereitet“ gehandelt, so Saß. Das sei ein Unterschied zu der Vergewaltigung seiner damaligen Frau im Jahr 2004. „Damals ging ein Streit voraus“, verbunden mit dem einseitigen Wunsch nach Geschlechtsverkehr – eine „situative Tat“.
1988 war das anders: Als der Angeklagte an jenem Abend seine Wohnung verließ, habe er schließlich den Schraubenzieher – die spätere Tatwaffe – mitgenommen, nach eigenen Worten geahnt, dass „etwas Schlimmes“ passiert, sei noch stundenlang durch die Stadt gezogen. Während der Tat – die über zwei Stunden dauerte – habe er mit dem Opfer kommuniziert und Vorsicht walten lassen, etwa indem er Zigarettenstummel aufgesammelt habe.
Geständnis nährt Zweifel an Erinnerungslücken
„Er hatte klare Vorstellungen, die er auch durchsetzen konnte“, so Saß weiter. Das spreche für „gut erhaltene psychische Funktionen“ und dagegen, dass er nicht einschätzen konnte, was er tat. Auch dass Jürgen R. angibt, sich aufgrund seines Alkoholkonsums nicht an die Tat erinnern zu können, klingt für Saß „nicht plausibel“. Unter anderem, weil der Angeklagte den Mordversuch zwar bestreitet, die Vergewaltigung aber gestanden hat. Das setze einen „Erinnerungsinhalt“ voraus.
Jürgen R . habe zwar durch seine Alkoholkrankheit eine „krankhafte seelische Störung“, aber keine psychische Erkrankung, die eine Unterbringung in einer Klinik notwendig mache, resümiert Saß.
Der Prozess wird am Freitag mit den Schlussplädoyers fortgesetzt. Möglicherweise fällt bereits am Nachmittag ein Urteil.
Sonst könnte sich ja jeder einen Rausch ansaufen und dann jemanden einen Schaden zufügen und auf mildernde Umstände hoffen.