Es ist eine kalte Januarnacht im Jahr 1988, als die junge Frau nach einem Discobesuch im bayerischen Aschaffenburg in ihr Auto steigen will. Plötzlich hält ein Mann ihr einen Schraubenzieher an den Hals und zwingt sie, mit ihm in den Wald zu fahren. Dort wird sie mehr als zwei Stunden lang vergewaltigt, von Stichen schwer verletzt, unter Laub lebendig verscharrt und nackt im Wald zurückgelassen.
Mehr als 30 Jahre später scheint klar: Ihr Peiniger war Jürgen R., der seit Dienstag in Aschaffenburg vor Gericht steht. Er räumt ein, der Vergewaltiger gewesen zu sein, bestreitet aber eine Tötungsabsicht. Genau das wirft ihm die Staatsanwaltschaft vor, sie geht von versuchtem Mord aus.
Angeklagter sagt selbst kein Wort
Jürgen R., knapp 1,70 Meter groß, braune Brille, weißes Hemd, sagt während des gesamten ersten Verhandlungstages kaum ein Wort, den Zuhörern hat er den Rücken zugedreht. Seiner Stellungnahme, die sein Anwalt vorliest, folgt er regungslos. Daraus geht hervor: Als Jürgen R. damals seine Wohnung in Aschaffenburg verließ, habe er gewusst: Jetzt wird etwas Schlimmes passieren.
Später am ersten Prozesstag tritt das Opfer aus dem Raum Offenbach im Gerichtssaal seinem mutmaßlichen Peiniger gegenüber. Die 52-Jährige ist eine sehr zierliche, schlanke Frau. Sie wirkt energiegeladen, stark. Ihre Kleidung ist hell, die Brille modisch, das rot-blonde Haar schulterlang. Erinnern kann sie sich an die Nacht von vor 30 Jahren nicht mehr genau. «Damit lässt es sich auch besser leben», sagt sie. Doch sie durchlebt das Martyrium noch einmal. Minutenlang liest der Richter ihre Aussage von 1988 vor, in der das brutale Vorgehen des Täters Schritt für Schritt rekonstruiert ist.
22-Jährige überlebt schwer verletzt
An das, was nach den zahlreichen Misshandlungen kommt, hat Jürgen R. nach eigenen Angaben keine Erinnerung. Nach der Aussage der Frau, die sie am Dienstag bestätigt, zwingt der Täter sie nackt mit einem Schal über den Augen und den Händen verbunden aus dem Auto. Dort sticht er auf ihren Brustkorb ein, sie bricht zusammen. Er lässt von ihr ab, kommt wieder, prüft mit einem Tritt gegen die am Boden liegende Frau, ob sie noch lebt, verscharrt sie unter Laub und verlässt mit ihrem Auto den Wald.
Doch die damals 22-Jährige ist nicht tot. Schwer verletzt kann sie sich aus dem Wald zu einer Straße schleppen, dort wird sie von einem Autofahrer aufgesammelt und ins Krankenhaus gebracht. Der Arzt zählt 15 bis 16 Stichwunden im Bereich des Oberkörpers, getroffen sind auch die Lunge und das Brustfell, die Arterie, die ihren linken Arm mit Blut versorgt, ist getroffen. Das Herz bleibt durch viel Glück unverletzt. Eine Not-OP rettet ihr das Leben.
DNA überführt Täter
Es dauert fast 30 Jahre, bis Jürgen R. gefasst wird. Dann überprüft die Kriminalpolizei den «Cold Case», den ungeklärten Fall, erneut. Es ist die DNA der Spur 2.45.44, die den Täter überführt: Sie stammt von der Rückbank des Autos, in dem die Frau vergewaltigt wurde. In der DNA-Datenbank wird der mehrfach vorbestrafte Jürgen R. geführt, weil ihn seine Ehefrau wegen Vergewaltigung anzeigte.
Die Kripo observiert Jürgen R., durchdringt sein Leben, das geprägt ist von Alkohol und Cannabis, von ständig wechselnden Jobs, einer Kindheit zwischen dem gewalttätigen und alkoholabhängigen leiblichen Vater und dem Stiefvater. So berichtet es der Chefermittler vor Gericht. Er und seine Kollegen bringen weitere ungeklärte Verbrechen im Raum Aschaffenburg mit Jürgen R. in Verbindung, der Verdacht eines Serientäters bestätigte sich aber nicht. Dann, am 22. Oktober 2017, schlägt die Polizei zu und nimmt Jürgen R. in seiner Wohnung fest. Er gibt laut Polizei die Vergewaltigungen zu, den versuchten Mord bestreitet er aber.
Angeklagter soll "Filmriss" gehabt haben
Vor Gericht spricht er von einem «Filmriss», den er auf seinen Alkoholkonsum zurückführt. Doch das damalige Opfer sagt aus, dass es nicht den Eindruck gehabt habe, dass er durch den Alkohol benebelt gewesen sei. «Er hat nur danach gerochen», sagt die Frau. Die Mischung aus Zigarettenrauch, Alkohol und ungewaschenem Körper könne sie bis heute nicht vergessen.
Sie lernt, so sagt sie es, auch mithilfe von Psychotherapie mit der Tat zu leben, beginnt mit dem Joggen, um sich mit Wäldern zu konfrontieren. Lernt, wieder allein rauszugehen, auch abends, kauft sich ein Cabrio, um wieder Auto fahren zu können. Für sie ist der Tag des Prozessbeginns ein guter. «Es ist ein befreiendes Gefühl, hier sitzen zu dürfen», sagt sie. «Denn er ist es, der sich dafür schämen muss, nicht ich.»
Weitere sechs Verhandlungstage sind angesetzt. Dann soll entschieden werden, ob Jürgen R. wegen versuchtem Mordes verurteilt werden kann. Denn eine Vergewaltigung ist 30 Jahre nach der Tat längst verjährt.