
Wer irgendwann einmal glaubt, alles gesehen, alles erlebt zu haben: Er sollte diesen Fehler nicht machen. Ich war zwei Jahre davor in Barcelona gewesen. Nou Camp, diese gewaltige Schüssel. Die Spielzeit war abgelaufen. Im Finale der Champions League führte der FC Bayern München gegen Manchester United 1:0. Alles wartete auf den Abpfiff. Die Heldengeschichten auf der Pressetribüne waren geschrieben. Was soll noch passieren? Erst traf Sheringham für Manchester. Dann Solskjær. Beide waren eingewechselt worden. Es gab nicht mal Verlängerung. In diesem unglaublichen Abend von Barcelona aber liegt der Keim für den 19. Mai 2001, dem wahnsinnigsten Finale der Bundesliga-Geschichte. Denn seit dem Tod in der Nachspielzeit wusste Münchens Torwart Oliver Kahn, es gibt immer noch eine Chance. Immer.
Die Ausgangsposition vor jenem 34. Spieltag in der Bundesliga war klar: Der FC Bayern als Spitzenreiter hatte drei Punkte Vorsprung auf den Tabellenzweiten Schalke 04. Ein Punkt beim Hamburger SV reicht München zur Meisterschaft. Schalke hatte zuletzt 1958 den Titel gewonnen, seit Jahrzehnten warten sie in Gelsenkirchen auf diesen Tag. Wenn der HSV die Bayern schlagen sollte und Schalke selbst gegen Unterhaching gewinnt, dann wäre es soweit. Schalke hatte das bessere Torverhältnis.
Es kam also auch auf den Hamburger SV an. Eine der Führungsfiguren damals: Verteidiger Bernd Hollerbach. 20 Jahre später sitzt der Ex-Profi in der Küche seines Elternhauses in Rimpar. Vorne steht die Mutter im Verkaufsraum der Metzgerei, hier hinten ist vom Fenster aus der Fußballplatz zu sehen, auf den der junge Hollerbach immer durch ein Loch im Zaun gelangte. Wir haben uns verabredet zum Gespräch über jenes Bundesliga-Finale 2001, von dem Bernd Hollerbach sagt: "Unvergesslich. Das war das verrückteste Spiel meiner Karriere."
Hollerbach: Ja. HSV gegen Bayern war damals, anders als jetzt, ein brisantes Spiel. Nord-Süd-Gipfel. Wenn die Bayern nach Hamburg kamen, hat die ganze Stadt vibriert. Für uns war wichtig, uns nicht hängen zu lassen, sondern alles zu geben. Wir wollten uns nichts nachsagen lassen im Meisterschaftskampf.

Hollerbach: Ich erinnere mich gut: Es war ein sehr heißer Tag. Für uns war klar: Wenn wir die Saison mit einem Sieg gegen die Bayern beenden, können wir mit den Fans einen versöhnlichen Abschluss feiern. So sind wir in das Spiel gegangen. Wir haben versucht, nach vorne zu spielen.
Wer zurück blickt auf das Fußball-Frühjahr 2001, der wird erkennen, dass sich das Drama angekündigt hat. Es hat Anlauf genommen. Das Titelrennen war ein Kopf-an-Kopf-Rennen. Vor dem 32. Spieltag hatten beide Teams 56 Punkte. Schalke war Tabellenführer und siegte 2:1 gegen Wolfsburg. Der FC Bayern siegte in Leverkusen 1:0 – durch ein sehr spätes Kopfballtor von Roque Santa Cruz in der 87. Minute. Favorit ist immer noch Schalke, sagte mir Leverkusens Manager Reiner Calmund. "Aber den Bayern ist alles zuzutrauen."
Eine Woche später muss Schalke nach Stuttgart, Bayern spielt im Olympiastadion gegen Kaiserslautern. Es läuft die letzte Minute, Spielstand in Stuttgart 0:0 in Stuttgart, Spielstand in München 1:1. Bayern-Trainer Ottmar Hitzfeld hatte gerade Stürmer Alexander Zickler eingewechselt. Auf der Anzeigetafel wird das 1:0 für Stuttgart eingeblendet, da wird ein Schuss von Zickler abgeblockt. Der Ball fliegt einen hohen Bogen – und landet wieder auf Zicklers rechtem Schlappen. Meine Überschrift in der Main-Post danach: "Ein Tor wie ein Meteor." Drei Punkte Vorsprung vor dem letzten Spieltag. "Fast könnte man meinen", sagt Bayern-Trainer Hitzfeld, "es steckt Magie dahinter".
Hollerbach: Die Bayern wollten das Spiel nur kontrollieren. Sicher stehen. Und dann irgendwann aus dem Nichts ein Tor machen. Das war ihre Strategie. Ich kann mich noch erinnern, dass ich es auf meiner Seite häufiger mit Owen Hargreaves zu tun hatte. Mein Freund Brazzo war ja verletzt und saß draußen.
Hollerbach: Ja, klar. Wir haben uns oft angerufen. Auch vor diesem Spiel haben wir natürlich gefrozzelt. Ich habe das immer getrennt. Im Spiel wurde sich nichts geschenkt, nach dem Spiel waren wir wieder Kumpels.
Hollerbach: . . . und Sergej Barbarez steigt hoch und macht das Tor. 1:0 für uns. Ein Wahnsinn.
Hollerbach: Die Bayernspieler waren allesamt blutleer. Wenn du die angezapft hättest, wäre kein Tropfen gekommen. Ich habe nur Leere in ihren Augen gesehen. Schockstarre. Bis auf einen: Oliver Kahn. Während wir noch gejubelt haben, habe ich plötzlich registriert, wie er seine Mitspieler angetrieben und die Spieler geschüttelt hat. Unfassbar, was Olli in diesem Moment des größten Niederschlags für eine Mentalität entwickelt hat. Er hat als Einziger im ganzen Stadion daran geglaubt, dass es noch eine Chance geben kann. Für mich hat diese Meisterschaft nur einen Namen: Oliver Kahn.

Hollerbach: Ja, natürlich. 90. Minute! Mir war klar: Da passiert heute nichts mehr. Wir waren das Spiel über sicher gestanden in der Abwehr. Beim Anstoß der Bayern haben wir uns noch zugerufen: Wir lassen keinen mehr rein. Für uns war alles klar.
Hollerbach: Und dann nimmt Schobi den Ball in die Hände, ausgerechnet Schobi, der allergrößte Schalke-Fan. Ich ruf‘ noch: "Schobi, was machst Du denn?"
Hamburgs Nummer eins, Hans Jörg Butt, hatte sich verletzt. Für die letzten beiden Saisonspiele darf Ersatztorwart Mathias Schober ins Tor. Schober ist in Marl geboren, ein paar Kilometer nördlich von Gelsenkirchen. "Er ist ein Schalker Junge", sagt Hollerbach. 1994 war der Torhüter zum FC Schalke 04 gewechselt. Er war dabei gewesen beim UEFA-Cup-Sieg 1997, und dann wird er zur Saison 2000/2001 an den HSV ausgeliehen, für den er nur drei Spiele absolvieren wird. "Schobi war ein guter Typ. Ich habe vor dem Spiel noch zu ihm gesagt: Du kannst die Schalker zum Meister machen." Doch nun, in der Nachspielzeit, nimmt Torhüter Schober einen Rückpass von Thomas Ujfalusi in die Hände. Die Rückpassregel war 1992 eingeführt worden. Einen absichtlichen Rückpass vom eigenen Spieler darf der Torhüter nicht in die Hände nehmen, sonst gibt es einen indirekten Freistoß.
Hollerbach: Ja. Der Pfiff war korrekt. Mir hat es so leid getan für Schobi. Ich kenne keinen, der mehr Schalker ist als er. Das Bild, wie er nach dem Spiel in der Kabine saß, werde ich nicht vergessen. Für ihn ist eine Welt zusammengebrochen. Er war am Boden zerstört. Ich weiß bis heute nicht, warum er den Ball in die Hand genommen hat. Es ist nicht zu erklären. Es bestand keine Not.
Vor zehn Jahren bin ich für eine Geschichte nach Gelsenkirchen gefahren. Ich hatte Mathias Schober für ein Interview angefragt, er lehnte ab. Über Hansa Rostock war er 2007 wieder auf Schalke gelandet. Ich wartete nach dem Training auf ihn und sprach ihn an. Wie war das damals? "Ach", sagte er, "das ist doch schon so lange her". Eine Fehlentscheidung sei es gewesen. Dann ging er weiter. Heute ist Mathias Schober Direktor der Nachwuchsabteilung des FC Schalke 04.
Hollerbach: Wir standen alle auf die Torlinie. Es hat etwas gedauert, bis der Freistoß ausgeführt werden konnte. Olli Kahn kam nach vorne, wollte Unruhe stiften. Den habe ich erstmal beruhigt.
Hollerbach: Mit Patrick Andersson haben wir jedenfalls nicht gerechnet.
Hollerbach: Andreas und ich sind aus der Mauer noch ein Stück nach vorne, um den Winkel zu verkürzen. Da war keine Lücke. Und dann war der Ball doch im Tor. Wahnsinn. Ich habe nur gedacht: Das kann doch nicht wahr sein.
Das ist ja auch so ein Irrsinn: Andreas Fischer war erst in der 90. Minute für Mehdi Mahdavikia eingewechselt worden. Hätte er seinen Fuß ein paar Zentimeter mehr in Richtung des Balles bewegt… Hätte, hätte, Fahrradkette. Der Schwede Patrik Andersson also lief an. Es brauchte brachiale Gewalt. Er absolvierte in seinen zwei Jahren beim FC Bayern 38 Spiele. Er erzielte genau ein Tor.
Hollerbach: Das haben wir da noch gar nicht mitbekommen. Wir wussten ja nicht, dass die Schalker schon vier Minuten lang die Meisterschaft gefeiert hatten.

Den Mythos vom "Meister der Herzen" begründet Reporter Rolf "Rollo" Fuhrmann. Er ist für den Bezahlsender Premiere in Gelsenkirchen. Es ist das letzte Spiel im Parkstadion, nebenan leuchtet schon die neue Arena. Schlusspfiff. Fuhrmann interviewt Schalkes Manager Andreas Müller und sagt: "Es ist zu Ende in Hamburg. Schalke ist Meister." Es sind die Sätze, die die Dämme brechen lassen im Stadion. Schalke feiert, die Fans rennen auf den Rasen. Freudentränen fließen. Und in Hamburg wird noch gespielt. Das Spiel dort war etwas später angepfiffen worden. Im aktuell erschienenen Magazin "Mehr als ein Spiel" sagt Fuhrmann, dass er über Funk nach dem Ende in Hamburg gefragt, aber keine Antwort erhalten habe. "Dann ging im Stadion ein Feuerwerk los. In Summe aller Eindrücke und Infos war ich felsenfest überzeugt, dass das Spiel bei 1:0 für den HSV abgepfiffen worden war."
Hollerbach: Ja, der Rollo. Aber bei uns in Hamburg gab es dann eben noch diesen Freistoß. Die Bayern sind danach durchgedreht. Aber wir hatten uns nichts vorzuwerfen. Wir haben alles gegeben. Wir haben dann erst in der Kabine auf Fernsehschirmen die Bilder aus Schalke gesehen. Das war bitter und hat einen schon berührt. Auf der anderen Seite habe ich auch viel gelernt in diesem Spiel.
Hollerbach: Ich bin schon einer, der immer gewinnen will. Auch damals schon. Aber wie Kahn in diesem Spiel reagiert hat, das war stark. Das war die Initialzündung.
Hollerbach: Wir waren im Jahr davor mit dem VfL Wolfsburg deutscher Meister geworden und wollten dieses Kunststück auch mit Schalke schaffen. Das wäre etwas Einzigartiges gewesen. Wir waren nah dran. Aber in dieser Saison hatten die Bayern einen Spieler, der alles getroffen hat: Arjen Robben.
Hollerbach: Und wie. Meister der Herzen. Ich kenne keinen Verein mit so vielen Emotionen und Herzblut. Da habe ich wirklich oft dran gedacht: Was wäre hier los gewesen, wenn Schalke damals den Titel wirklich geholt hätte?
Hollerbach: Die Bayern sind den anderen schon weit enteilt. Ich würde mich für die Fans freuen, wenn es mal wieder mehr Spannung geben würde. Aber es kann jederzeit wieder passieren. Deswegen liebe ich den Fußball so sehr, weil er immer Überraschungen parat hat.

Nach dem Abpfiff dürfen die Journalisten auf den Rasen, Interviews führen. Undenkbar heute. Und dann steht da Oliver Kahn mit seiner unglaublichen Mentalität. "Ich habe sofort gedacht, noch haben wir Zeit", sagt er. "Nie aufgeben, man darf nie aufgeben." Am nächsten Morgen, auf der Rückfahrt mit dem Zug nach Würzburg, sortiere ich das Erlebte, und plötzlich fällt mir Indiana Jones ein. Manchmal ist die Überschrift das Schwierigste. Diesmal habe ich sie im Kopf, bevor die erste Zeile des Artikels geschrieben ist: "Die Jäger des verlorenen Schatzes."