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Der Weltersatztorhüter
Ein Bild ging um die       -  Ein Bild ging um die Welt: Der frustrierte Oliver Kahn nach dem Finale in
Yokohama.
Foto: FOTO DPA | Ein Bild ging um die Welt: Der frustrierte Oliver Kahn nach dem Finale in Yokohama.
Von Achim Muth
 |  aktualisiert: 16.12.2020 13:50 Uhr
Dies ist die Geschichte von Einsamkeit und Schmerz. Dies ist die Geschichte von Oliver Kahn, 36. Es ist die 60. Minute des Spiels zwischen Deutschland und Ecuador. Von oben unter dem Dach der Arena sieht das Geschehen auf dem Rasen aus wie ein riesiges grünes Bild, das gehalten wird von einem weißen Rahmen aus Leibern in DFB-Trikots. Ganz links auf der Trainerbank sitzt Jürgen Klinsmann im modischen Poloshirt mit den drei Sternen, ganz rechts sitzt Oliver Kahn mit schwarzer Trainingshose und drei Streifen. Es ist die größtmögliche Distanz, doch die beiden trennen mehr als diese 20 Sitze zwischen ihnen. Sie trennen Welten.

 

Der eine hatte einen Traum. Der andere hat ihn zerstört. Nach der bitteren und bizarren Champions-League-Niederlage des FC Bayern im Finale 1999, als Manchester United in der Nachspielzeit ein 0:1 noch in ein 2:1 drehte, saugte Oliver Kahn neue Motivation aus der Erkenntnis: "Vor jedem großen Sieg steht eine große Niederlage." Zwei Jahre später war er der Held des Elfmeterschießens im Endspiel gegen Valencia.

Dann kam die WM 2002 und ein überragender Kahn führte eine durchschnittliche Mannschaft ins Finale von Yokohama. Das Drama ist Legende: Ausgerechnet im Endspiel gegen Brasilien macht er seinen einzigen Fehler, hält einen Schuss von Rivaldo nicht fest, Ronaldo staubt ab. Das Bild des Oliver Kahn, wie er nach dem 0:2 einsam am Torpfosten lehnt, es ging um die Welt. Seit vier Jahren nagt dieser Patzer an ihm und all seine Energie konzentrierte er auf die Wiedergutmachung. Es gab ja wieder eine WM, vier Jahre später im eigenen Land. Diesmal würde er den Titel nicht aus den Händen gleiten lassen. Vor jedem großen Sieg

Dann kam Jürgen Klinsmann. Der neue Bundestrainer nahm ihm im Sommer 2004 erst die Kapitänsbinde weg, dann seinen Status als Nummer eins, schließlich den Platz im WM-Tor. Ein Akt, wie es ihn noch nicht gegeben hat im deutschen Fußball, und das alles muss wissen, wer verstehen will, wie es jetzt in diesem Oliver Kahn aussieht. Was er fühlt, wenn Jens Lehmann auf dem Feld steht, und er sitzt im Nirgendwo dieser Berliner Arena. Ob er enttäuscht sei vom Bundestrainer, wurde Kahn neulich gefragt: "Darum geht es hier nicht", antwortet er. "Es geht hier nicht um ein persönliches Schicksal, sondern um etwas viel, viel Größeres und viel, viel Wichtigeres." Aber wenn er jetzt die Nationalhymnen hört und die Lehmann-Lehmann-Sprechchöre und wenn er die bunten Ränge sieht, dann könnte auch der Schluss nahe liegen, dass sich da einer in die Tasche lügt, denn eigentlich ist er hier doch Nebendarsteller im falschen Film. Aber das würde er nicht zugeben, schließlich hat er ja trotz seiner Degradierung neue Werbeverträge bekommen und lächelt in die Kamera: "Auf der Bank ist es doch am schönsten." Sein WM-Pokal ist jetzt ein gefülltes Weißbierglas.

Sicher, Kahn sagt, dass er die "Aufgabe mit der Mannschaft voll angenommen habe", aber er gibt auch zu, dass es ein Prozess sei, "der immer noch andauert. Es ist ja für mich eine völlig neue Situation. Auf der einen Seite der Frust, dass man nicht spielt, auf der anderen Seite doch die Fähigkeit, unheimlich engagiert zu trainieren, zu arbeiten und sich auch innerhalb der Mannschaft so professionell wie möglich zu geben". Zur Erinnerung, da spricht einer, der Titel gesammelt hat wie andere Paninibildchen, der Welttorhüter war, der 85 Länderspiele hat und den sie einmal Titan nannten.

Beobachter, die nah dran sind am Team, erzählen, dass sich Kahn super integriere und dass er vor dem Polen-Spiel eine flammende Rede an die Mannschaft gehalten habe. Auch Jürgen Klinsmann singt eine Ode: "Oliver Kahn ist federführend, wie er sich einbringt, wie er nach den jungen Spielern schaut. Das ist vorbildhaft."

"Vor jedem großen Sieg steht eine große Niederlage"

Oliver Kahn

Seinen Kontrahenten Jens Lehmann würdigt Kahn zwar im Training keines Blickes, er wünscht ihm aber auch "nichts Böses, denn das kommt ja meistens ganz schnell zu dir selber zurück". Kahn klammert sich vielmehr an die Unvorhersagbarkeit des Moments. "Gerade das Champions-League-Finale von Arsenal hat ja gezeigt, das alles in Sekundenschnelle gehen kann." Lehmann musste da Mitte Mai mit Rot vom Platz. "Man muss sich das vor Augen halten", so Kahn, "und das ist es, weshalb ich meine Motivation auch für das Training so hoch halte: du spielst in einem entscheidenden Spiel, Achtelfinale, Viertelfinale, Halbfinale, und es passiert irgendetwas, dann musst du sofort 1000-prozentig da sein". Aber kommt diese Chance wirklich? "Nein, normalerweise nicht."

In Berlin sind noch wenige Minuten zu spielen. Vor Oliver Kahn steht ein Ordner mit schwarzer Mütze. Er ist dick und er hat die Arme in die Hüften gestemmt und seine Akkreditierung hängt über dem Bauch wie eine Krawatte. Er sieht aus, als sei er der Bewacher des Weltersatztorwarts. "Wir haben in den vergangenen zwei Jahren mit Bayern zwei Meistertitel gewonnen und zwei Pokalsiege", sagte Kahn in dem erwähnten Gespräch noch, "da fragt man sich natürlich, warum man nicht spielt". Er hat keine Antwort darauf.

Als Schiedsrichter Valentin Ivanov abpfeift, genießen Ballack und Klose und Lehmann die Ovationen des Publikums. Selbst die Ersatzspieler sind aufgesprungen. Ein Team! Das ist es ja, was Klinsmann predigt. Nur einer klinkt sich aus aus dieser Polonaise der Freude. Und wer würde das nicht verstehen? Oliver Kahn. Langsam erhebt er sich von seinem Sitz, ganz rechts außen, senkt den Kopf und geht direkt die Treppe hinunter in den Keller des Stadions. Das Trikot in seiner Hand ist zerknüllt: ein blauer Klumpen.

Ersatzbank, ganz außen: Der neue       -  Ersatzbank, ganz außen: Der neue Stammplatz von Oliver Kahn.
Foto: FOTO DDP | Ersatzbank, ganz außen: Der neue Stammplatz von Oliver Kahn.
 
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