Als Eckhard Geiß Abteilungsleiter und Trainer beim Fußballklub seines Heimatortes wurde, hörte ein paar hundert Meter hinter dem Sportplatz seines TSV die Welt auf. Zumindest ein Teil von ihr. Der Eiserne Vorhang trennte im Sommer 1989 noch die beiden deutschen Staaten, trennte Mühlfeld von seinem thüringischen Nachbarort Schwickershausen. Mühlfeld, ein Stadtteil von Mellrichstadt im Landkreis Rhön-Grabfeld, war Zonenrandgebiet.
Heute ist Eckhard Geiß 66 Jahre alt. Seit 33 Jahren ist er Abteilungsleiter beim TSV Mühlfeld, genauso lang - mit einer kurzen Unterbrechung - Trainer seines Klubs. Vor einigen Jahren haben sich die Mühlfelder mit den Fußballern aus dem Nachbarort Eußenhausen zusammengetan. Die erste Mannschaft spielt A-Klasse, die zweite B-Klasse.
Als Spieler hat Eckhard Geiß oft die Mannschaftskasse finanziert
Die Einheiten unter der Woche verantwortet seitdem Thorsten Breunig, der Trainer der ersten Mannschaft der Spielgemeinschaft. Aber wenn die beiden Mannschaften der SG Eußenhausen/Mühlfeld zeitgleich an unterschiedlichen Orten auflaufen, dann steht bei der Zweiten Eckhard Geiß, wie immer mit einer Mütze auf dem Kopf, draußen und dirigiert. "Die Leute sagen, ich bin ruhiger geworden."
Früher habe er sich schneller aufgeregt, erinnert sich Geiß. Seine Neigung, Schiedsrichterentscheidungen zu kommentieren, brachte ihm als Spieler die ein oder andere - in den 1980er Jahren im Männerfußball übliche - Zehn-Minuten-Zeitstrafe ein. Gleichbedeutend mit einer Einzahlung von fünf Mark in die Mannschaftskasse. "Die habe ich oft finanziert", sagt Geiß und schmunzelt. "Der Geiß braucht nicht so viel Kondition, der spielt ja immer zehn Minuten weniger", frotzelten die Zuschauer.
Nach dem Ende seiner Spielerlaufbahn rekrutierte der damalige Vorsitzende Rolf Hahner Eckhard Geiß erst als Abteilungsleiter, einige Monate später auch als Trainer der Mannschaft. "Ich habe die ganze Garde ja noch gekannt", sagt Geiß. Er tanzte mit ihr gleich in der ersten Saison hinauf in die A-Klasse, die heutige Kreisliga.
Einen Trainerschein machte er freilich nicht. "Ich habe daheim einen Stoß Bücher", sagt Geiß und macht eine ausladende Handbewegung, "in die habe ich mich eingelesen und Übungen für die Einheiten ausgesucht."
1996 ist der TSV Mühlfeld nach einer Regeländerung abgestiegen
Die folgenden Jahre waren ein stetes Auf und Ab. Einmal wurden die Mühlfelder Vierter in der A-Klasse, ehe sie ein Opfer der frisch eingeführten Drei-Punkte-Regel wurden. 1995/96 war das und Geiß erinnert sich, dass er schon vor Saisonbeginn Bedenken gegen die Regeländerung angemeldet hatte. "Mir war klar, dass sie uns nicht zugutekommt, weil wir oft unentschieden gespielt haben."
Das Ende vom Lied: Nach der alten Zählweise hätte Mühlfeld in der Tabelle fünf Konkurrenten hinter sich gelassen. Die neue, die Siege gegenüber Unentschieden besser stellt, errechnete für den TSV einen Abstiegsplatz.
Es sollte nicht das einzige Mal bleiben, dass der TSV Mühlfeld an einer Neuerung des Bayerischen Fußball-Verbands zu knabbern hatte. Beim Thema, welche und wie viele Spieler wann in verschiedenen Mannschaften eines Vereins eingesetzt werden dürfen, kommt Geiß aus der Reserve.
Es war ein Aufstiegsspiel zur A-Klasse, das 2019 weit über den Fußballkreis Rhön hinaus Aufsehen erregte: Mühlfeld verlor die Begegnung zweier B-Klassen-Zweiten sage und schreibe 1:14 gegen die SG Arnshausen/FC 06 Bad Kissingen II/Reiterswiesen II. Die Bad Kissinger hatten - regelkonform - mehr als eine Handvoll Spieler auf das Feld schicken können, die zuvor in jener Saison zumindest zu Kurzeinsätzen für die Bezirksliga-Elf des FC 06 gekommen waren.
Eckhard Geiß und seine Kritik am Verband
Nach dem Abpfiff hatte Geiß in seiner Kritik weniger auf den Gegner abgezielt als auf den Verband: "Das Schlimme ist doch, dass es erlaubt ist." Worte, die er heute noch so ähnlich formulieren würde. Mit dem Gegenargument, die Regelung sichere den Fortbestand manch einer Mannschaft, kann Geiß nach wie vor wenig anfangen. "Es bringt doch nichts, wenn man nur noch mit aller Gewalt versucht, am Sonntag eine Mannschaft zusammenzubringen." Dann sei es doch ehrlicher, die Mannschaft abzumelden, findet Geiß.
Er selbst ist schon immer einer, der lieber anpackt, als zu reden. So wie damals, als es darum ging, den Anbau des Sportheims zu stemmen. Unzählige Stunden arbeitete Geiß, ein gelernter Fliesenleger, dort, nicht selten alleine. Genauso unentgeltlich, wie er in all den Jahren auch den Trainerjob erledigte. Immerhin: Seit er Ehrenmitglied des TSV Mühlfeld ist, muss er auch keinen Beitrag mehr bezahlen.
Geiß' Credo lautet: "Der Verein ist mir wichtig und dass es mit ihm weitergeht. Kritik kann man immer besser üben, wenn man keine Verantwortung trägt." Deshalb hat er in all den Jahren den Trainerposten auch nie von sich aus abgegeben. "Es hat ja funktioniert. Die Spieler hatten von mir nicht die Schnauze voll, ich nicht von ihnen", sagt er und lacht. Obendrein stand er wie selbstverständlich zur Verfügung, als ihn der Klub nach den knapp eineinhalb Jahren, in denen er es mit anderen Coaches probierte, wieder an die Seitenlinie rief.
Etwa 400 Einwohner hat Mühlfeld, das soziale Leben des Ortes wird zu einem guten Teil von seinen Vereinen bestimmt. Bei den Anglern und den Schützen ist Geiß ebenfalls Mitglied, wenngleich passiv. "Ein Verein bedeutet Zusammenhalt", möchte er den Gemeinschaftssinn nicht missen: "Wenn jeder nur in seiner Bude hockt, dann fehlt etwas im Dorf."
Bei der Musik hört das Verständnis für die jungen Leute auf
"Früher sind wir von der Schule heimgekommen und haben gebolzt. Heute sitzen sie vor den Bildschirmen", beschreibt Geiß eines von zwei Phänomenen, bei denen er mit vielen jungen Leuten von heute überkreuz liegt. Das andere? "Diese Musik. Bumm-Bumm-Bumm in einer Lautstärke, bei der man sich im Sportheim nicht mehr unterhalten kann. Dann geht der Mann mit der Mütze nach Hause."
Dieser Satz, er ist eine Analogie, die perfekt zu passen scheint. "Der Mann mit der Mütze geht nach Haus", sang Udo Jürgens, als 1978 die Zeit von Helmut Schön zu Ende ging. Nach 14 Jahren als Bundestrainer. Eckhard Geiß ist mehr als doppelt so lange auf seinem Posten. Nächstes Jahr, bei der Jahreshauptversammlung des TSV Mühlfeld, wird er die Abteilungsleitung möglicherweise an seinen Stellvertreter Michael Eppler weitergeben.
Und wie lange will er noch sonntags als Trainer am Spielfeldrand stehen? "Mal sehen, wie lange es die zweite Mannschaft noch gibt", sagt Geiß. Es hört sich an wie: solange ich gebraucht werde.