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Würzburg
Nach Debatten ums Bundesliga-Topspiel: Warum der  Videobeweis so wichtig ist
Der unterfränkische Profi-Schiedsrichter und Video-Assistent Thomas Stein über die meist diskutierte Neuerung im Profi-Fußball und den (mangelnden) Respekt vor den Unparteiischen.
Thomas Stein: 'Aus Schiedsrichter-Perspektive möchte ich den Video-Assistenten jedenfalls nicht mehr missen.
Foto: Fabian Frühwirth | Thomas Stein: "Aus Schiedsrichter-Perspektive möchte ich den Video-Assistenten jedenfalls nicht mehr missen.
Thomas Brandstetter
 |  aktualisiert: 15.07.2024 09:55 Uhr

Der sogenannte Videobeweis ist auch vier Jahre nach seiner Einführung 2017 in der Bundesliga (die 2. Liga zog zwei Jahre später nach) ein großer Zankapfel im Profifußball. Wie das jüngste Beispiel beim Bundesliga-Spitzenspiel in Dortmund am Samstagabend abermals bewies. Ein Gespräch mit dem unterfränkischen Spitzen-Schiedsrichter und Bundesliga-Assistenten Thomas Stein vom TSV Homburg (Landkreis Main-Spessart) über einen gerechten Fußball, knifflige Entscheidungen und Respekt vor dem Unparteiischen.

Frage: Wie darf man sich die Situation im Kölner Keller vorstellen?

Thomas Stein: Auch wenn sich die Räumlichkeiten tatsächlich im Untergeschoss des RTL-Gebäudes in Köln befinden – wir sagen Video-Assist-Center (VAC) dazu. An einem Samstag sind es in der Bundesliga meistens fünf Spiele gleichzeitig, also sitzen fünf Teams mit jeweils drei Menschen an verschiedenen Arbeitsstationen, die jeweils voneinander getrennt sind, im selben Raum.

Und dann gucken Sie Fußball im Fernsehen, wie es Abermillionen auch dauernd tun. Hilft der Videobeweis dem Fußball wirklich?

Stein (lacht): Wir schauen sehr genau hin und sehr wahrscheinlich auch wesentlich konzentrierter als die Mehrheit der "normalen" Fernsehzuschauer. Aus Schiedsrichter-Perspektive möchte ich den Video-Assistenten jedenfalls nicht mehr missen. Oft bleibt es dennoch eine subjektive Betrachtung und Einschätzung. Das Projekt heißt Video Assistant Referee, VAR, im Deutschen Video-Assistent. Der Fußball ist dadurch meiner Meinung nach auf jeden Fall gerechter geworden, weil eklatante Fehlentscheidungen grundsätzlich nicht mehr passieren können, wenn alle Beteiligten ihren Job richtig machen. Wobei im VAC auch nur Menschen vor den Monitoren sitzen, die in Ausnahmefällen selbstverständlich auch eine Fehlerquelle darstellen können.

Einer der seltenen Blicke in den so genannten Kölner Keller - hier aus dem Jahr 2017.
Foto: Rolf Vennenbernd, dpa | Einer der seltenen Blicke in den so genannten Kölner Keller - hier aus dem Jahr 2017.

Es gibt noch immer und immer wieder Irritationen darüber, wann und weshalb Sie und Ihre Kollegen sich aus dem Keller melden. Bitte um Aufklärung.

Stein: Die Grundsatzfrage, bei der wir einsteigen, lautet: Ist die Entscheidung auf dem Spielfeld klar und offensichtlich falsch? Das ist der erste Prüfschritt. Und das passiert auch nur bei einem dieser vier Themenfelder: Jegliche Torerzielung, jegliche Strafstoßentscheidung, bei einer Spielerverwechslung und beim sofortigen Feldverweis, also der glatt Roten Karte. Das sind die vier Kriterien. Ausschließlich in diesen Fällen kann eine Überprüfung durch den Video-Assistenten erfolgen. Nur dann läuft immer ein Check. Auch wenn man es im Stadion oder im TV womöglich gar nicht mitbekommt, wird eine vom Schiedsrichter-Team korrekt gelöste Szene entsprechend in deren Richtung kommuniziert. Also entweder: Entscheidung korrekt oder „Check completed“. Oder eben: Schau Dir das bitte nochmal an, da war was.

Können Sie aus dem Keller heraus den Schiedsrichter dazu zwingen, sich die Szene noch einmal anzuschauen, oder obliegt diese Entscheidung dem Mann auf dem Platz?

Stein: Der Schiedsrichter ist immer derjenige, der am Ende die Entscheidung auf dem Platz trifft. An der Hierarchie hat sich durch die Einführung des Video-Assistenten nichts geändert. Maßgeblich für jede Entscheidung ist immer noch die Instanz Schiedsrichter auf dem Spielfeld. Er könnte sogar, falls im VAC eine Szene nicht gecheckt werden sollte, eine Überprüfung initiieren. Das kommt aber so gut wie nie vor.

'Maßgeblich für jede Entscheidung ist immer noch die Instanz Schiedsrichter auf dem Spielfeld', sagt Thomas Stein. Das Foto zeigt Assistent Marco Achmüller und Schiedsrichter Felix Zwayer (verdeckt) beim Bundesligaspiel von Arminia Bielefeld gegen Bayer Leverkussen beim Checken.
Foto: Friso Gentsch | "Maßgeblich für jede Entscheidung ist immer noch die Instanz Schiedsrichter auf dem Spielfeld", sagt Thomas Stein.

Letztlich wäre der Schiedsrichter ja auch mit dem Klammeraffen gepudert, würde er die Hilfe durch die Fernsehbilder nicht annehmen . . .

Stein: Letztendlich wollen die Kollegen auf dem Spielfeld und natürlich auch wir im VAC die Entscheidung im Sinne des Fußballs treffen, und der Schiedsrichter weiß auch, dass die Video-Assistenten ihn unterstützen wollen. In der großen Mehrzahl der Fälle folgt er deren Einschätzung, weil natürlich durch 20 und teilweise sogar mehr verschiedenen Kameraperspektiven und Superzeitlupen ganz andere technische Möglichkeiten im VAC vorhanden sind, als das menschliche Auge auf dem Rasen in der Schnelle überhaupt erkennen kann.

Nimmt es dem Fußball aber nicht auch Emotionen und Leidenschaft, wenn nachträglich ein Tor aberkannt wird, weil der Schütze oder Passgeber sich nicht die Fußnägel geschnitten und mit dem Nagel des großen Zehs im Abseits stand? Wo das menschliche Auge sagt: gleiche Höhe?

Stein: Abseits ist eine faktische Entscheidung. Es ist wie bei einer Schwangerschaft: Entweder man ist schwanger oder nicht. Im VAC wird der Abspielzeitpunkt sowie die Abseitsposition exakt und vor allem unter Beachtung der Dreidimensionalität computergestützt berechnet. Manchmal dauert es auch mal ein wenig länger, bis die Entscheidung fällt, was an der Komplexität der Vorkommnisse liegen kann. Dass am Ende jedoch die richtige Entscheidung steht, ist am wichtigsten. Wenn die Fußspitze eben im Abseits steht, dann ist es Abseits. Ein potentielles System zur automatisierten Abseitserkennung wird gerade übrigens von der Fifa getestet.

"Abseits ist eine faktische Entscheidung. Es ist wie bei einer Schwangerschaft: Entweder man ist schwanger oder nicht."
Thomas Stein, Schiedsrichter

Inzwischen schießt eine Mannschaft in einer engen Situation ein Tor und traut sich erst einmal gar nicht richtig zu jubeln, weil jeder weiß, es wird jetzt erst noch einmal überprüft. Nimmt das nicht auch den Fans ein emotionales Erlebnis?

Stein: Man könnte auch sagen, dass Mannschaft und Fans sich dann zweimal freuen können. Aber ich kann schon nachvollziehen, dass mancher empfindet, dass dies etwas skurrile Szenen sind. Andererseits erzeugt es natürlich auch eine ganz neue Art der Spannung. Und zum ganzen Thema Video-Assistent: Er wurde auf Wunsch der Vereine eingeführt. Wir Schiedsrichter setzen nur das um, was die Fifa irgendwann erlaubt hat: Wir nehmen nun auch TV-Bilder als Grundlage unserer Entscheidungen. Zuvor war der Grundsatz die Tatsachenentscheidung, also alleinig die Wahrnehmung der Schiedsrichter auf dem Platz. Und die konnte im Fall einer falschen Wahrnehmung natürlich sehr bitter für einen Spieler oder Verein sein. Sie konnte aber auch für den Schiedsrichter frustrierend sein, wenn er zum Beispiel in der letzten Minute ein Abseits nicht erkannte oder einen Elfmeterpfiff versäumte, und die von dieser offensichtlichen Fehlentscheidung betroffene Mannschaft deshalb im Halbfinale der Champions League oder des DFB-Pokals ausscheiden musste.

Haben Sie früher eigentlich selbst mal gekickt?

Stein: Ja klar, bei meinem Heimatverein TSV Viktoria Homburg, bei Marktheidenfeld. Dort habe ich alle Jugendmannschaften durchlaufen.

Unter Fußballern gibt's den Spruch: Wenn's vom Talent her nicht reicht, als Spieler höher zu kommen, wirst halt Schiedsrichter . . .

Stein (lacht): Kenn ich. Da mache ich auch kein Geheimnis draus: Mein Bruder Jochen war immer der talentiertere Fußballer als ich, obwohl auch ich zumindest mal in der Jugend-Kreisauswahl Würzburg gespielt habe. Aber mein Talent hätte mich bestimmt nie in die Bundesliga geführt.

Schiedsrichter Deniz Aytekin im Gespräch mit Mönchengladbach Christoph Kramer.
Foto: ChristofKoepsel | Schiedsrichter Deniz Aytekin im Gespräch mit Mönchengladbach Christoph Kramer.

Und was hat Sie dann dazu, bewogen, unbedingt pfeifen zu wollen?

Stein: Ich habe bereits mit 13 Jahren angefangen. Auslöser war die WM '94 in den USA. Da hatten die Schiedsrichter zum ersten Mal nicht Schwarz an, sondern bunte Trikots. Gelb, Rot. Schiedsrichter, deren Tätigkeit und Bedeutung für das Spiel sind mir damals aufgefallen. Der Abteilungsleiter meines Vereins hat mein Interesse auch schnell mitbekommen. Schiedsrichter war und ist nicht unbedingt der Lieblingsjob im Fußball. Zudem mussten Vereine früher auch Strafen zahlen, wenn sie nicht genügend Schiedsrichter stellen konnten. Als damals im "Bayernsport" mal wieder ein Schiedsrichter-Kurs ausgeschrieben war, hat mich der Abteilungsleiter Bruno Gerstenberger kurzerhand angemeldet.

Im September  hat Ihr Kollege Deniz Aytekin eine Diskussion um den Respekt vor Schiedsrichtern losgetreten, weil er Dortmunds Mahmoud Dahoud mit Gelb-Rot zum Duschen schickte, nachdem der Spieler nach einem Pfiff eine abfällige Handbewegung gemacht hatte. Das wurde doch bestimmt auch unter Schiedsrichtern debattiert, oder?

Stein: Losgelöst von diesem Fall: Die Themen Unsportlichkeit oder Respekt uns gegenüber haben wir seit Jahren auf unserer Agenda, weil wir dem natürlich Einhalt bieten wollen. Ich bin immer wieder fasziniert, wie diszipliniert die Spieler beispielsweise im Handball sind. Nach einem Pfiff wird der Ball hingelegt und nicht groß mit dem Schiedsrichter diskutiert.

Hat die Respektlosigkeit zugenommen?

Stein: Der Fußball ist ein Teil der Gesellschaft, und ich persönlich bin der Meinung: Es ist ein gesellschaftliches Problem, dass Menschen vermehrt Probleme mit Autoritäten oder Instanzen haben.

Sie sind Polizist, da sind Übergriffe ein großes Thema . . .

Stein: Stimmt, aber ich arbeite glücklicherweise bei der Kripo und bin dort zuständig für die Bekämpfung von Wirtschaftskriminalität, Vermögensdelikten und Cybercrime. Aber von den Kollegen, die auf Streife sind, höre ich das ganz oft, oder ich lese es in den Tagesberichten, was Polizisten auf Einsätzen inzwischen alles erleben müssen. Wir Schiedsrichter haben über die Jahre hinweg auch eine Entwicklung genommen. Vom anfangs autoritären Spielleiter der 90er hin zum heute modernen Spielmanager. Wir sind auch Leistungssportler, die versuchen, ein Spiel am Laufen zu halten, immer unter Beachtung der Regeln. Jeder Spieler ist für sein Handeln selbst verantwortlich. Wir reagieren letztendlich nur darauf.

"Ich denke, dass durch die Faktoren Fans und Stadionatmosphäre unsportliche Ausreißer wieder zunehmen werden, weil die Emotionen sich gegenseitig hochschaukeln könnten."
Thomas Stein, Schiedsrichter

In der Diskussion um Aytekins Reaktion in Dortmund vor einigen Wochen kam auch die Sprache auf eine fünf- oder zehnminütige Zeitstrafe im Profi-Fußball, wie in Jugendspielen, und wie es sie bei den Amateuren mal gab. Was halten Sie davon?

Stein: Im Jugendbereich, das habe ich selbst erlebt, ist das manchmal wirklich eine sehr heilsame Erfahrung und pädagogisch wertvolle Maßnahme, wenn einer mal fünf Minuten zugucken und sein Fehlverhalten reflektieren muss. Im Profibereich ist es aber schwierig. Da werden Trainer Mittel und Wege finden, um eine Zeitstrafe mit möglichst wenig Auswirkungen auf das Spiel rumzukriegen. Ich denke, im Erwachsenenalter, sagt die Gelbe Karte doch genug: Du musst nun aufpassen! Das ist eine Verwarnung! Das sollte jeder Spieler verstehen. Dieses Signal ist eindeutig. Im Profibereich ist die Zeitstrafe nicht angemessen.

Schiedsrichterin Bibiana Steinhaus in ihrem Abschiedsspiel, dem DFL-Supercup-Finale zwischen dem FC Bayern München und Borussia Dortmund.
Foto: Hans Rauchensteiner | Schiedsrichterin Bibiana Steinhaus in ihrem Abschiedsspiel, dem DFL-Supercup-Finale zwischen dem FC Bayern München und Borussia Dortmund.

Sie waren drei Jahre als Assistent im Team von Bibiana Steinhaus. Männerdomäne Bundesliga. Wie hat sich die Arbeit mit ihr unterschieden im Vergleich zu einem Kollegen?

Stein: Bibiana ist wie ich bei der Polizei. Alleine daher hat es von Anfang an menschlich sehr gut gepasst. Ich kann mich noch genau an ihr erstes Bundesligaspiel erinnern. Hertha BSC Berlin gegen Werder Bremen. Man kann kaum beschreiben, welche mediale Aufmerksamkeit auf diesem Spiel lag, nur, weil halt das erste Mal eine Frau ein Bundesligaspiel gepfiffen hat. Es war natürlich nie ihre oder unsere Absicht, dies zum Thema zu machen. Wir wollten einfach nur ein Bundesligaspiel leiten. Aber diese mediale Hype war unglaublich. „Rausgehen! Pfeifen! Wieder reingehen!“ Diesen Satz habe ich ihr bei diesem und jedem anderen unserer Spiele gesagt. Ich weiß noch, wie froh ich nach ihrer Bundesliga-Premiere war, als ich abends im Flieger in Richtung Frankfurt saß und durchschnaufen konnte, auch weil das Spiel aus Schiedsrichter-Sicht total unauffällig war. Wichtig war, dass ihr Debüt so reibungslos über die Bühne ging. Das war sozusagen das Ziel dieser Mission. Mit Bibi waren das drei wunderbare Jahre. Sie hat es immer sehr gut verstanden, mit Spielern zu kommunizieren. Und, um auf die Themen Respekt und Unsportlichkeiten zurückzukommen: Interessanterweise haben die Spieler sich nie getraut, sie sehr hart anzugehen. Den Unterschied meine ich schon ausgemacht zu haben, dass sich die Spieler da etwas zurückgehalten haben. Dazu gehört selbstverständlich auch die natürliche Autorität, die Bibi ausgestrahlt hat.

Und wann pfeifen Sie jetzt mal ein Bundesligaspiel?

Stein: Gar nicht, weil die Entwicklung, und da bin ich ein Teil davon, mittlerweile in die Richtung geht, dass Schiedsrichter und Assistenten ganz verschiedene Laufbahnen sind. Es gibt spezialisierte Assistenten und Schiedsrichter. Ich war früher drei Jahre in der 3. Liga Schiedsrichter und damit automatisch in der 2. Bundesliga Assistent. Seit ein paar Jahren geht man eher den Weg: Wenn jemand regelmäßig jedes Wochenende als Assistent an der Linie steht oder im VAC eingesetzt wird, steigern diese Erfahrungen die Entscheidungsqualität. Genauso wie beim Schiedsrichter, der ausschließlich noch in der Mitte steht und 1., 2. und 3. Liga pfeift. Es gibt zwar noch einige wenige Ausnahmen, die beide Jobs machen, aber mittelfristig wird es vermutlich nur noch ein Entweder-Oder geben.

Zur Person

Thomas Stein, geboren am 21. April 1982 in Marktheidenfeld, ist seit 1995 Schiedsrichter. Er leitete bislang 215 Spiele, davon 30 in der 3. Liga. Als Assistent war er in 96 Bundesligaspielen, 81 in der 2. Liga und 20 im DFB-Pokal im Einsatz. Sein letztes Spiel an der Linie war Mitte Mai am 33. Spieltag der vergangenen Bundesligasaison, als in Freiburg Münchens Robert Lewandowski den Torrekord von Gerd Müller egalisierte. Weil Stein sich im Sommer-Trainingslager der DFB-Schiedsrichter die Patellarsehne im Knie gerissen hat, ist er aktuell fast jedes Wochenende ausschließlich als Assistant Video Assistant Referee (AVAR) aktiv. "Ich schufte jeden Tag für mein Comeback auf dem Rasen", sagt Stein, der sich wünscht, dieses im Februar, März 2022 geben zu können. Der Polizist ist verheiratet, hat einen Sohn und wohnt in Aschaffenburg.
Quelle: tbr/DFB
 
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