Unsportlich sei sie nie gewesen. Doch weil sie das Laufen immer als langweilig empfunden habe, war Sima Fern lieber mit dem Rad unterwegs. Bis sie, wie sie sagt, "versehentlich" zur Marathonläuferin wurde. Und das im Alter von 45 Jahren. Heute, 24 Jahre später, zählt die 69-Jährige stolze 199 Läufe. Die 200 will sie rund um ihren 70. Geburtstag am 5. Januar vollmachen. Am Ziel ist die ehrgeizige Trennfelderin (Lkr. Main-Spessart) dabei noch lange nicht. Ihr Leben selbst gleicht einem Marathon.
Beim rund dreistündigen Gespräch mit der Redaktion erzählt Sima Fern von unterschiedlichen Etappen ihres Werdegangs. Sie erzählt lebendig, wirkt offen und herzlich. Ihre Geschichte aber beginnt mit Startschwierigkeiten. Geboren und aufgewachsen ist Fern in der iranischen Hauptstadt Teheran. Früh verheiratet, war sie mit 24 Jahren bereits zweifache Mutter, als sie nach Frankfurt am Main kam.
Die islamische Revolution von 1979 hatte sie zur Flucht aus ihrer alten Heimat gezwungen. Bis dahin war das gesellschaftliche Leben in dem nahöstlichen Land noch nicht so extrem-konservativ geprägt wie heute.
Fern sagt, sie habe die Veränderung frühzeitig kommen sehen und sich dagegen gewehrt. Sie habe sich nicht das Wort verbieten lassen und auch außerhalb der eigenen vier Wände keine lautstarken Debatten gescheut. Meinungsstark war die 69-Jährige offenbar schon immer. Sie wirkt nicht wie der Typ Mensch, der sich in traditionelle Muster pressen lässt.
Gegen alle Konventionen: eitel, laut und selbstbestimmt
Das Tragen eines Kopftuchs habe sie schon damals abgelehnt, berichtet Sima Fern. Auf der Rückseite ihres Smartphones ist heute ein kleiner Spiegel befestigt. Den braucht sie rund einen Kilometer vor der Ziellinie ihrer Läufe. Dann überprüft sie ihr Äußeres. Auf den Bildern der wartenden Fotografen wolle sie schließlich gut aussehen.
Schon als junge Frau im Iran habe sie keinen Hehl daraus gemacht, alles abzulehnen, was sie in ihrer Freiheit einschränkte, selbstbestimmt zu handeln. Im Rahmen ihrer Ausbildung bei der iranischen Luftabwehr habe sie gemeinsam mit anderen Iranerinnen und Iranern am englischen Sprachunterricht teilgenommen. Ihr US-amerikanischer Dozent habe bemerkt, dass sie mit ihren politischen Ansichten aneckte und sie gewarnt: "Seien Sie vorsichtig. Die töten Sie." "Lieber sterbe ich, als dass ich nicht das ausspreche, was ich will!", habe sie ihm geantwortet.
Als es letztendlich doch brenzlig für die junge Frau wurde, gelang ihr mithilfe des US-Amerikaners die Flucht. Er wurde schließlich ihr Ehemann, die beiden zogen nach Frankfurt am Main. Er selbst sei ein begnadeter Läufer gewesen und habe sie stets zu seiner Leidenschaft animieren wollen, erinnert sich Sima Fern. Doch sie ließ ihn immerzu abblitzen. Das Laufen war ihr schlicht nicht aufregend genug.
Mit 45 Jahren "versehentlich" zur Marathonläuferin geworden
Erst als eine Freundin ihrer Tochter von ihrer Laufgruppe erzählte, wurde sie hellhörig. Und zwar deshalb, weil sie das Laufen mit Gehen verwechselt hatte. Eingestellt auf einen gemütlichen Spaziergang, fand sie sich in Jeanshose und Sneakern bekleidet plötzlich in einer Gruppe von drahtigen Läuferinnen und Läufern in Sportkleidung wieder. Statt wieder nach Hause zu gehen, machte Sima Fern mit. Und war unerwartet hingerissen.
An Wochenenden unternahm Sima Fern oft Radtouren mit ihrem damaligen Ehemann, von Frankfurt bis ins Taubertal. Die Region um Wertheim (Main-Tauber-Kreis) habe es ihr angetan. Nur weil sich das Ehepaar einmal verfahren hatte, landeten die beiden zufällig in Trennfeld. Nach ihrer Scheidung vor 13 Jahren kaufte Fern dort ein altes Haus mit Scheune und renovierte es.
Sima Fern hatte im Iran eine Ausbildung absolviert, dort ein Jahr lang Innenarchitektur und in Deutschland letztlich Betriebswirtschaft studiert. Währenddessen zog sie ihre kleinen Kinder groß. Gemeinsam mit ihrem Mann hatte sie eine Sprachschule in Frankfurt gegründet und sich außerdem in Sportvereinen sowie in Vereinen für Frauenrechte engagiert. Die Puste sei ihr dabei nie ausgegangen. Zu schwächeln hätte sie sich auch nicht leisten können, sagt sie.
Durch den Sport das verpasste Reisen nachgeholt
Nur zum Reisen blieb bei all dem nicht viel Zeit. Durch das Marathonlaufen holt sie das heute nach, erklärt die 69-Jährige. Venedig, Paris, Rom, Helsinki und Los Angeles – das sind nur einige wenige Städte, in denen Fern gelaufen ist und mit Medaillen und Urkunden zurückkam.
Hat sie ein Reiseziel vor Augen, so meldet sie sich für einen Lauf vor Ort an. Sie schwärmt davon, durch die für den Marathon abgesperrten Straßen zu laufen und die Städte so eindringlicher wahrnehmen zu können. Dabei reise sie am liebsten alleine. So könne sie ihr Tempo auf ihre eigenen Bedürfnisse anpassen, müsse keine Rücksicht nehmen und fühle sich freier, sagt sie.
In einem Anbau neben Ferns Haus steht ein mit unzähligen Medaillen behangenes Alugeflecht. Zumindest hat sie sich selbst noch nicht die Mühe gemacht, sie alle zu zählen. Denn neben den 199 Marathons ist sie noch etliche andere Läufe gelaufen. Hinzu kommen Sonderauszeichnungen.
Mit langem Atem in Richtung Zielgerade – und darüber hinaus
Sima Fern hat in ihrem Leben immer gekämpft, um den nächsten Schritt zu machen. Dafür hat sie hart gearbeitet, hohe Hürden überwunden und lange Strecken gemeistert. Am Ziel angekommen ist die bald 70-Jährige noch nicht. Aber der letzte Abschnitt geht sich leichter.
Zuletzt war die Trennfelderin noch auf der Suche nach dem passenden Ort für ihren 200. Marathon, den sie im Januar absolvieren will. Der ursprünglich geplante Lauf in Houston, Texas, gibt eine Sollzeit von sechs Stunden vor – inzwischen brauche sie etwas länger für die Strecke.
Nach dem Jubiläumslauf will Sima Fern die 200 auch beim Halbmarathon erreichen. Auch über die kürzere Distanz zählt sie bereits 124 erfolgreich absolvierte Läufe. Die lebensbejahende Frau, die kein Blatt vor den Mund nimmt und der die Energie nie auszugehen scheint, erweckt nicht den geringsten Zweifel daran, dass sie auch dazu nicht imstande wäre.