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Rottendorf
Corona-Tragödie: "Sportvereine ohne Sport braucht keiner"
Es ist eine traurige Wahrheit, die in diesen Tagen aus manchen Klubs dringt. Werden die Mitglieder ihnen reihenweise den Rücken kehren? Einblicke in eine vom Lockdown gebeutelte Welt.
Ein Sportplatz ist bei Sonnenschein und milden Temperaturen wegen der Ausbreitung des Coronavirus vorübergehend gesperrt. Was macht der Lockdown mit den Vereinen?
Foto: Bernd Thissen | Ein Sportplatz ist bei Sonnenschein und milden Temperaturen wegen der Ausbreitung des Coronavirus vorübergehend gesperrt. Was macht der Lockdown mit den Vereinen?
Eike Lenz
 |  aktualisiert: 10.05.2023 10:24 Uhr

Es geht um Leben und Sterben in diesem Artikel. Ein Mann wird Toiletten putzen und Desinfektionsspender aufstellen, eine Kirchweih absagen und sich mit Wortungeheuern auseinandersetzen. Man wird Existenzielles in Frage stellen und Hoffnung verbreiten. Hoffnung auf ein bisschen Normalität, Hoffnung auf Vernunft und Einsicht, Hoffnung auf einen wirksamen und möglichst rasch verfügbaren Impfstoff. Die Hoffnung, sie ist zur flüchtigen Begleiterin geworden in einer Zeit, in der Infektionszahlen explodieren und Systeme kollabieren; in einem Jahr, das die Welt in Atem hält und ins Chaos stürzt. Worauf er jetzt noch hofft? „Dass wir den Christbaumverkauf durchführen können“, sagt Bernd Horak.

Es gibt Opfer in der Corona-Krise, und nicht jeder denkt dabei sofort an die Vereine mit ihren Millionen Mitgliedern. Ein Verein stirbt im Stillen – ohne die dramatischen Bilder mit Särgen voller Toten, wie man sie in dieser Pandemie aus Italien oder den USA gesehen hat. Aber auch ein Verein hat eine Seele, die gepflegt werden will und die immer dann leidet, wenn seine Mitglieder sich auseinanderleben, wenn der Abstand unter ihnen wächst.

Eine Zeit lang hält ein Verein das aus, aber nicht auf Dauer. Deutschland ist das mal bewunderte, mal belächelte Volk der Vereinsmeier. In den Vereinen pulsiert das Leben, sie sind der Kitt, der die Fliehkräfte in der Gesellschaft binden soll. Im Kleinen wie im Großen.

Da ist der TSV Rottendorf, 1600 Mitglieder, neun Abteilungen, ein Koloss unter den Vereinen. Systemrelevant, wie man heute sagen würde. Bernd Horak, der Vorsitzende, sagt: „Bei uns wird keiner weggeschickt. Wir kümmern uns um jeden.“

Und da ist der SC Schernau, 160 Mitglieder, eine Fußball- und eine Schachabteilung. „Ein erfolgsverwöhnter Verein mit unerreichter Atmosphäre“, wie es auf dessen Facebookseite heißt. Was ein bisschen übertrieben ist, aber eben auch ein bisschen stimmt, wenn man um die Bedeutung des Vereins für die Gemeinschaft im Dettelbacher Stadtteil weiß.

Der Verein als Keimzelle gesellschaftlichen Miteinanders

Es gibt in Deutschland Zehntausende Rottendorfs und Schernaus, in der Masse entstanden nach Einführung der Demokratie in den 1920er-Jahren; oft sind die Sportklubs – neben der Freiwilligen Feuerwehr – die einzigen Vereine am Ort. Dabei spielt es kaum eine Rolle, wie groß oder klein diese sind. Denn hier wie dort, in der 5600 Einwohner zählenden Würzburger Stadtrandgemeinde und im 340-Seelen-Stadtteil von Dettelbach, geht es um Gemeinschaft, um Zusammenhalt. Um etwas, das in unserer globalisierten Welt immer noch der kleinste gemeinsame Nenner ist. Der Verein ist die Keimzelle für gesellschaftliches Miteinander.

Bernd Horak sagt: „Ein Kind kommt nicht auf die Welt und spielt Fußball.“ Ein Kind wächst im besten Fall in die Gesellschaft hinein. Und wo gelänge das besser als im Kreise Gleichgesinnter, wie beim Mutter-Kind-Turnen. Aber das Mutter-Kind-Turnen war so ziemlich das Erste, was beim TSV Rottendorf dem Lockdown zum Opfer fiel. Nähe zu anderen Kindern aufzubauen, das ist in Corona-Zeiten nicht vorgesehen und passt nicht zu den strengen Schutzvorschriften. „Du kannst keinen Abstand wahren“, sagt Horak.

Bilder, die dem Vorsitzenden das Herz wärmen

Nach dem völligen Stillstand im Frühjahr war auch in den Vereinen der Sommer die Zeit des schönen Erwachens. Fußballer kamen zusammen, um Versäumtes nachzuholen, und in Rottendorf trafen sich auf dem Rasen die Tanzgarden, um an ihrer Choreografie zu feilen. Bilder, die einem Vereinsmenschen wie Horak das Herz wärmten und ihm das Gefühl zurückgaben, dass der Verein eben doch seine Daseinsberechtigung hat. Ein Verein existiert und agiert ja nicht zum Selbstzweck, er folgt vielmehr einem Auftrag und hält ein Angebot bereit, dessen sich seine Mitglieder nach Belieben bedienen.

Was aber, wenn es dieses Angebot über längere Zeit nicht mehr gibt? Wenn die Menschen sich fragen, ob es sich noch lohnt, Teil dieser Gemeinschaft zu sein und Beiträge zu bezahlen? „Meine Angst ist, dass die Leute sagen, ein Verein ist ein Dienstleister. Und wenn diese Leistung ausbleibt, kündigen wir“, sagt Horak.

Bislang hat es in Rottendorf keine Kündigungswelle gegeben. Trotzdem schrumpft die Mitgliederzahl, weil es immer Leute gibt, die dem Ort und damit dem Verein den Rücken kehren. Der Unterschied ist: In normalen Jahren gleichen die Eintritte die Austritte aus – mindestens.

„Du kriegst in dieser Situation keine neuen Mitglieder“, sagt Horak. So, wie das Theater gerade keine neuen Abonnenten findet, weil auch dort das Angebot heruntergedimmt ist oder gar nicht stattfindet. Und dann sagt Horak einen Satz, in dem die ganze traurige Wahrheit dieser Tage steckt: „Der Sport wird weggesperrt – einen Sportverein ohne Sport aber braucht keiner.“ Wenn die Menschen erst einmal feststellten, dass es auch ohne Fußball geht, dass ein Sonntag im Kreis der Familie auch ganz schön sein kann, dann wird es kritisch.

Diffus bleiben die Perspektiven für die Fußballer in dieser Pandemie. Wann werden sie den Spielbetrieb wieder aufnehmen können?
Foto: Uwe Anspach | Diffus bleiben die Perspektiven für die Fußballer in dieser Pandemie. Wann werden sie den Spielbetrieb wieder aufnehmen können?

Für Michael Winterstein ist dieser Kipppunkt noch nicht erreicht, aber auch er sieht Probleme, sollte dieser Zustand der Ungewissheit noch länger andauern. Winterstein führt im kleinen Dettelbacher Stadtteil Schernau den Sportclub mit etwa 160 Mitgliedern. Die allermeisten von ihnen sind einmal Mitglied geworden, weil sie entweder selbst Fußball spielen oder mit den Fußballern sympathisieren. Die Fußballer tragen den Klub, und der Klub, so sagt Winterstein, trägt die Ortsgemeinschaft. Nun kann man die Geschichte vom Ende her denken und überlegen, was aus dem Verein, was aus dem Dorf wird, sollte es die Fußballer – auch wenn sie nur in der zweitniedrigsten Klasse spielen – einmal nicht mehr geben.

Der Verein betreibt die Gaststätte im Sportheim, die im Lockdown aber kein Geld abwirft und als Treffpunkt ausfällt. Die Kirchweih im November hat der SC absagen müssen. Dabei ist sie laut Winterstein „Haupteinnahmequelle“ für den Verein. „Für uns geht das alles noch“, sagt der Vorsitzende, „weil uns nicht so hohe Fixkosten drücken.“

Ein Heimspiel kostet den SC Schernau 100 Euro  

Aber wie lange noch? Ein Heimspiel seiner Fußballer kostet den Klub um die 100 Euro, mit denen er Schiedsrichter oder Warmwasser in den Umkleiden bezahlt. Sie sind nur dann zu erwirtschaften, wenn Zuschauer Eintritt bezahlen, ihr Bier trinken und ihre Bratwurst essen. Fußball ohne Zuschauer wäre ein Verlustgeschäft und macht deshalb keinen Sinn. Damit liegt der SC Schernau auf Linie mit dem Verband. Lieber stellt man den Spielbetrieb bis auf Weiteres ein. In Schernau gibt es Spieler, die – sollten sie wegen Fußballs in Quarantäne müssen – Ärger mit ihrem Arbeitgeber bekämen.

Obwohl es derzeit weder Trainings- noch Spielbetrieb gibt, sieht sich Winterstein – wie jeder Vereinsvorsitzende in diesen Tagen – Wortungetümen wie der staatlichen Infektionsschutzmaßnahmenverordnung oder der Wettkampf-Spielbetriebsaussetzung gegenüber. Er ist verantwortlich für die Einhaltung der Hygienevorschriften, wenn es eines Tages wieder losgehen sollte. Dafür hat er neben seinem eigentlichen Beruf mehrere Webinare des Bayerischen Fußball-Verbands (BFV) besucht. Welche sonstigen Hilfestellungen der BFV gegeben habe? Winterstein fallen auf Anhieb keine ein.

Jubel beim TSV Rottendorf: Die Fußballer sind auf dem besten Weg in die Landesliga - und schon zum zweiten Mal in einer Saison Herbstmeister.
Foto: HMB Media/Julien Becker | Jubel beim TSV Rottendorf: Die Fußballer sind auf dem besten Weg in die Landesliga - und schon zum zweiten Mal in einer Saison Herbstmeister.

Bernd Horak ist von der ganzen Situation inzwischen ziemlich genervt. „Dass wir nicht wissen, wie es weitergeht, ist ganz schlimm.“ Es ist diese Perspektivlosigkeit, die ihn umtreibt. Horak hat für den Verein „gefühlt schon alles“ gemacht. Er hat die Toiletten geputzt und Jahresabschlüsse erstellt. Klaglos hat er mit seinem Team alle Auflagen umgesetzt, Desinfektionsspender auf dem ganzen Gelände verteilt.

Mit seiner Eloquenz mag er manche überfordern, aber Leute wie ihn brauchen die Vereine – gerade in der jetzigen Zeit. Leute, die das Schicksal nicht einfach hinnehmen, sondern sich den Kopf zermartern, wie sie den Verein aus der tristen Gegenwart in eine gute Zukunft geleiten können. Er weiß, wie schwierig es derzeit ist, die Leute im Verein zu motivieren. „Du kannst ja kaum etwas einfordern, weil nix geht.“

Rottendorf ist schon zum zweiten Mal Herbstmeister

Vielleicht hilft ein Blick auf die Fortschritte und Erfolge inmitten der Krise. Die Rottendorfer Fußballer zum Beispiel sind gerade dabei, Geschichte zu schreiben. Nach 23 von 28 Spieltagen führen sie die Tabelle der Bezirksliga West an. Weil die Saison im Sommer 2019 gestartet und während des Lockdowns im Frühjahr 2020 nicht abgebrochen, sondern nur unterbrochen wurde, erleben sie beim TSV eine kuriose Situation. „Wir sind zum zweiten Mal Herbstmeister“, so Horak.

Sollten sie den Aufstieg schaffen, wären sie die Ersten im Verein, denen dieser Sprung gelingt. Horak erzählt das nicht ohne Stolz, weil es keine „gekaufte“ Meisterschaft wäre, sondern tatsächlich eine Art Sommermärchen – mit lauter Spielern, die noch nie für einen anderen Verein als Rottendorf aufgelaufen seien. „Wenn ich denen jeden Monat 200 Euro zahlen müsste wie manche Vereine im Würzburger Umland, wäre das alles nicht möglich gewesen.“

Vereinsvorsitzender und Corona-Beauftragter Michael Winterstein desinfiziert sich am Sportplatz des SC Schernau die Hände. Daneben steht die Tafel mit allen Schutzvorschriften.
Foto: Alexander Rausch | Vereinsvorsitzender und Corona-Beauftragter Michael Winterstein desinfiziert sich am Sportplatz des SC Schernau die Hände. Daneben steht die Tafel mit allen Schutzvorschriften.

Bevor sich die Rottendorfer Kicker im Frühjahr wieder auf diesen von der Sonne beschienenen Weg begeben, geht es jetzt erst einmal in einen Winter, über dem düstere Prognosen kreisen. Bleiben die Infektionszahlen hoch, wird es auch im Dezember keine Lockerungen geben. Der Präsident des Robert-Koch-Instituts Lothar Wieler hat noch kürzlich eine traurige Gewissheit verkündet: „Das Virus verbreitet sich vor allem dort, wo Menschen gern zusammenkommen.“ Das „gern“ betonte er. Zwei neue Turngruppen, die sich in Rottendorf im Sommer binnen kürzester Frist gegründet hatten, insgesamt 25 Kinder, musste der Verein wieder nach Hause schicken. Ein Schritt, der Bernd Horak nicht leichtfiel. „Wir sind doch für den Ort da, damit da Leben ist“, sagt der Vorsitzende. Seit 151 Jahren gibt es den Verein.

Mit der Situation "verantwortungsvoll" umgehen

Weder in Rottendorf noch in Schernau bezweifeln sie die Notwendigkeit der Corona-Schutzmaßnahmen. Auf dem Facebook-Profil des SC Schernau heißt es mit Datum vom 27. Oktober: „Wir möchten verantwortungsvoll mit der Situation umgehen. Schüler müssen im Sportunterricht Masken tragen oder dürfen ihre Freunde nicht treffen, und wir spielen Sonntag für Sonntag mit 22 Personen gleichzeitig am Sportplatz gegeneinander.“ Der Vorsitzende fügt hinzu: „Jammern hilft nicht. Wir müssen da durch.“

Die Frage wird sein: Wo werden sie stehen, wenn sie „da durch“ sind? Wenn in einem schier endlos langen Tunnel wieder Licht erkennbar ist? Wird das noch der Verein sein, der er vor der Krise war? Der sich wie in Rottendorf auch den Schwachen annimmt, wie der sozialdemokratische Gemeinderat Horak sagt, und der Traditionen hochhält? Und sei es nur, den Leuten an Weihnachten Christbäume zu verkaufen und diese nach Hause zu liefern.

 
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