Und plötzlich sollte es ganz schnell gehen. Es war Tag X, auf den die Gastronomen in Bayern so lange hingefiebert hatten. Der Tag der Wiedereröffnung, nachdem die Betriebe Mitte März wegen der Corona-Pandemie schließen mussten. Der Tag, an dem zum ersten Mal wieder Gäste an den Tischen Platz nehmen dürfen. Es war Dienstag, der 5. Mai, als aus Tag X ein festes Datum wurde: Am 18. Mai soll die bayerische Gastronomie schrittweise öffnen dürfen. Doch wie bereitet man sich als Gastronom darauf vor?
Montag, 11. Mai: Es regnet, es ist grau. Das Außenthermometer zeigt knapp fünf Grad Celsius. "Wenn ich gerade aus dem Fenster schaue, kann ich mir Gastro im Freien nicht wirklich vorstellen", sagt Jürgen Süß, Geschäftsführer des Hotels und Restaurants Ross in Schweinfurt. Doch damit soll es in einer Woche losgehen: Biergärten und Außenbereiche dürfen dann bis 20 Uhr öffnen. Süß ist skeptisch: "Was machen die Leute, die außen vorbereitet haben und es kommt ein Regenschauer? Sie haben Kosten verursacht und produzieren das Zeug wieder für die Mülltonnen." Vor seinem Hotel und Restaurant stehen die Tische unter zwei großen, dunkelroten Markise. Vor Regen geschützt also. Wer bei dem Wetter überhaupt essen gehe, sei eine andere Frage. Noch sechs Tage bis zur Wiedereröffnung.
Jürgen Süß, 68, und sein Sohn Julius, 33, führen den Familienbetrieb in der dritten und vierten Generation. Der Lockdown sei absolut richtig gewesen, vielleicht sogar ein bisschen zu schwach, findet Jürgen Süß. Im März erlebt er die Situation in Österreich am eigenen Leib. Mit seiner Frau ist er damals in St. Anton im Skiurlaub. Sein Sohn Julius erinnert sich, wie er den Vater angerufen hat. Die Bar im Hotel war noch gut besucht und er hatte von einem Gast von der Situation in Ischgl, das nur unweit vom Urlaubsort der Eltern entfernt liegt, erfahren. Dass sie dort alles zugemacht haben, alle Mitarbeiter heimgeschickt haben. Corona-Lockdown. Die Eltern fahren sofort nach Hause.
Gäste stornierten Zimmer- und Tischreservierungen
Viel Zeit zum Nachdenken bleibt dem Vater nach seiner Rückkehr nicht. Gäste stornierten massenweise ihre Zimmer. "Ich habe wahrscheinlich pro Tag 40, 50 Zimmer storniert", erinnert sich Jürgen Süß. In die Magengrube rein, einmal das Messer umgedreht. So habe es sich angefühlt. Bei seinem Sohn sagten die Gäste die Reservierungen für das Restaurant ab. Wie geht es mit den knapp 50 Mitarbeitern weiter, was ist mit den Lebensmitteln im Kühlschrank? Fragen, die sie sich stellten. Es sei eine Art Automatismus gewesen, sagt Jürgen Süß, "irgendwas zu tun, was richtig ist".
Am Dienstag darauf schließt das Restaurant, obwohl der Mittagstisch noch erlaubt gewesen wäre. Auch Außer-Haus-Essen hätten sie weiter verkaufen dürfen. Sieben Tage probierten sie es aus, dann gaben sie auf, weil es sich wirtschaftlich nicht lohnte. "Wer holt sich denn ein Schäufele?", fragt Julius Süß. In der Plastikschale.
Dienstag, 12. Mai: Jürgen und Julius Süß sitzen in der Vinothek ihres Hotels. Rote Wände, schwarze Ledersessel. Während die Menschen draußen über den Platz schlendern und die Mittagssonne trotz der Kälte genießen, herrscht drinnen gähnende Leere. Seit einer Woche wissen die Gastronomen nun, dass sie am 18. Mai öffnen dürfen. Viel mehr wissen sie aber nicht. "Die Infos kommen zu spät", sagt Julius Süß. "Wir hätten nie gedacht, dass aufgemacht werden darf."
Doch die Vorbereitungen laufen. Um seine Mitarbeiter wieder zu beschäftigen, entscheidet Jürgen Süß, fortan auch an Sonn- und Feiertagen zu öffnen. Das sei das letzte Mal so gewesen, als er ein Kind war. Am Nachmittag steht ein Termin mit einer Berufsgenossenschaft an. Johannes und Stephan Schmittnägel, ein Sicherheitsingenieur und ein Betriebsarzt vom arbeitsmedizinischen und sicherheitstechnischen Dienst der Berufsgenossenschaft Nahrungsmittel und Gastgewerbe (BGN), beraten Julius Süß, erklären ihm, welche Hygiene-Regeln sinnvoll sind und welche nicht.
"Manches kann, manches muss", sagt der Mediziner Stephan Schmittnägel. Sie gehen alle Abteilungen des Betriebs durch, vom Housekeeping in den Zimmern bis zum Service im Restaurant. Das bayerische Kabinett hat beschlossen: Gäste wie Mitarbeiter müssen immer einen Mund-Nasen-Schutz tragen, sobald der Tisch verlassen wird und sobald ein Sicherheitsabstand von 1,5 Metern nicht eingehalten werden kann.
Die Gesichtsmaske verdeckt das Lächeln der Bedienung
Die Gastronomie lebe von der freundlichen Bedienung, die lächelt, sagt Julius Süß. Mit einer Gesichtsmaske ist das Lächeln verdeckt, außerdem höre man "die Menschen durch die Maske nicht gut sprechen", fügt sein Vater hinzu. "Ich kann mir gerade nicht vorstellen, wie ich von jemandem bedient werde, der einen Mundschutz hat." Nach dem Termin der Berufsgenossenschaft klebt Süß an alle Türen Schilder, auf denen steht, dass eine Maskenpflicht besteht. Noch fünf Tage bis zur Wiedereröffnung.
Mittwoch, 13. Mai: Immer noch kein offizielles Rahmenkonzept. Informiert werden Jürgen und Julius Süß täglich vom Bayerischen Hotel- und Gaststättenverband (Dehoga). Ein Mitgliederschreiben teilt ihnen mittags mit, dass die Einhaltung der Abstandsregelung von 1,5 Metern "oberstes Gebot" habe, dass die Gäste an Tische platziert werden müssten und dass eine Gästeliste geführt werden müsse, damit es im Falle einer Infektion möglich sei, Kontaktpersonen zu ermitteln. Am Abend dann die Gewissheit. Der Dehoga schickt das offizielle Rahmenkonzept an seine Mitglieder. Die Regeln seien umsetzbar, sagt Julius Süß. Es komme auch auf die Eigeninitiative der Mitarbeiter und Gäste an. Noch vier Tage bis zur Wiedereröffnung.
Die knapp 50 Mitarbeiter sind fast alle in Kurzarbeit, Entlassungen habe es kaum gegeben. Die Auszubildenden "helfen mal hier, mal dort", sagt Julius Süß. "Das hätte ich nie mit meinem Gewissen vereinbaren können, Lehrlinge in Kurzarbeit zu schicken, die haben ja noch weniger." Den Mitarbeitern fehle besonders das Trinkgeld. Es sei eine Frechheit, dass immer so getan werde, als verdiene die Gastronomie richtig gut. "Die Gastronomie verdient nur gut, solange sie viel Umsatz macht", sagt Jürgen Süß. Und der fehlt seit Wochen.
Angst vor einer zweiter Infektionswelle
Immer wieder kommt die Frage auf: Wie lange halten wir es aus? Die 30 000 Euro Soforthilfe, die das Hotel bekommen hatte, sind schon im März ausgeschöpft. Damit habe man nicht einmal die Lohnkosten decken können, sagt Jürgen Süß. "Wenn man alle Kreditlinien ausschöpft und die Kurzarbeit läuft, können wir es noch ein paar Monate aushalten. Wie wir uns erholen, ist die andere Frage." Viel schlimmer sei eine zweite Welle. Jetzt hochfahren und dann wieder schließen. "Das halten wir nicht aus und noch weniger der Staat", sagt der 68-Jährige.
Julius Süß schätzt sich glücklich, dass sein Vater an seiner Seite steht und ihn beim Überlebenskampf des Familienunternehmens unterstützt. "Jetzt haben wir so viel überstanden, wieso sollen wir nicht auch das überstehen", zeigt sich Jürgen Süß optimistisch. Wie es damals bei der Wirtschaftskrise war, fragte der Sohn seinen Vater, als das mit Corona gerade losging. Es habe keine Kurzarbeit gegeben, die Mitarbeiter seien da gewesen, das Restaurant geöffnet. Kein Vergleich.
Donnerstag, 14. Mai: Mitarbeiterbesprechung im Hotel Ross. Es ist das erste Mal seit Wochen, dass sich alle wiedersehen. Mit Abstand und Maske schult Julius Süß sein Team in Kleingruppen, am Ende unterschreiben sie, dass sie über die geltenden Hygiene-Regeln unterrichtet wurden. Die Stimmung sei gut gewesen, sagt Julius Süß. "Als die erste Gruppe rein kam, habe ich gesagt, es ist fast wie Weihnachtsfeier."
Freitag, 15. Mai: Eine Plexiglasscheibe wurde an der Rezeption montiert. Dahinter arbeiten die Mitarbeiter ein Konzept für die Gästeliste aus, die ab Montag geführt werden muss. Ein Hauptverantwortlicher pro Tisch soll das Formular ausfüllen: Name, Personenanzahl, Uhrzeit, Telefonnummer. Der Betrieb wird noch die Tischnummer einfügen. Normalerweise können 100 Gäste auf der Terrasse bewirtet werden, ab Montag nur etwa 50. Für die erste Woche, in der sie nur bis 20 Uhr geöffnet haben, hat der Betrieb daher eine kleine Karte ausgearbeitet. Man könne nicht planen, sagt Julius Süß, und wisse nicht, wie viele Gäste überhaupt kommen. Noch drei Tage bis zur Wiedereröffnung.
Am Wochenende will Süß weitere Schilder anbringen und Laufwege markieren. Einbahnstraßen. "Wir haben Schilder ausgedruckt mit Pfeilrichtungen", sagt Julius Süß und lächelt. "Bei der Umsetzung schauen wir dann mal, wie das funktioniert." Wieder Ungewissheit, doch er freut sich, dass es wieder losgeht. Dass wieder Gäste kommen.
Für seinen Vater Jürgen ist Tag X nicht am Montag. Für ihn ist Tag X der 30. Mai, der Tag, an dem auch das Hotel wieder aufmachen darf. Der Tag, "wenn es wirklich losgeht", sagt Jürgen Süß. "Das Bett ist da, es muss nur bezogen werden."