Eine Packung Schinken für 1,19 Euro. 99 Cent für die Mango im Angebot. 1,13 Euro für ein aufgeschnittenes Schwarzbrot. Viel mehr ist im Moment nicht drin. Und der Monat ist erst zur Hälfte vorbei. Denise Binder kauft mit ihrer dreijährigen Tochter Jamie im Schweinfurter Discounter ein. Das Thema Armut begleitet sie beim Gang durch die Regale. Jamies grell-pinke Jacke leuchtet schon von weitem. Ein paar ihrer dunklen Haare hängen über ihre großen braunen Augen. Jamie schiebt einen kleinen kindgerechten Einkaufswagen stolz vor sich her. Er reicht locker für den Einkauf aus. Immer wieder stoppt das Mädchen und greift in die Regale. Immer wieder legt ihre Mutter die Lebensmittel zurück.
13 Prozent der Kinder in Unterfranken sind von Armut gefährdet
"Mama, Banane!", ruft sie durch die Supermarktreihen. "Na gut, aber nicht zu viele", sagt ihre Mutter und legt das Obst in den Wagen. Plötzlich stoppt Jamie wieder, sie hat etwas entdeckt. Sie lässt den Einkaufswagen los, rennt durch den Markt und packt sich ein Vogelhäuschen vom Wühltisch. "Das können wir nicht kaufen, Jamie, das geht nicht." Es ist ein Satz, den Denise Binder verabscheut, den sie aber ständig aussprechen muss. "Das ist das Schlimmste, wenn man ihr immer wieder Dinge verwehren muss", sagt die 34-Jährige bedauernd.
In diesen Momenten, sagt Stefan Schwarz mit Tränen in den Augen, fühlt er sich nicht wie ein Mann, nicht wie ein Vater. Momente, in denen er nicht genügend für seine Tochter sorgen kann, in denen das Geld nicht ausreicht. Mit seiner Lebensgefährtin und der gemeinsamen Tochter lebt der 33-Jährige im Zentrum Schweinfurts. Beide Eltern sind zu diesem Zeitpunkt arbeitslos. Zum Einkaufen ist Schwarz nicht mitgekommen, da er bei einem von zahlreichen Vorstellungsgesprächen ist. "Es ist hier nicht einfach, Arbeit zu finden", sagt Schwarz in deutlichem Tonfall und fügt hinzu: "Zur Not gehe ich putzen." Bis dahin muss die staatliche Unterstützung für den Lebensunterhalt reichen.
Laut Berechnungen des Deutschen Kinderschutzbundes sind in Deutschland rund 4,4 Millionen Kinder von Armut betroffen. Eine Studie des "Sozialatlas 2018" der Arbeiterwohlfahrt Bayern (AWO) sieht alleine in Bayern 12,3 Prozent der Kinder unter 18 Jahren von Armut gefährdet oder gar betroffen. Bayern ist damit noch weitaus weniger gefährdet als beispielsweise die neuen Bundesländer. Für Unterfranken sprechen die Statistiken von einer 13-prozentigen Armutsquote unter Kindern. Hier wird also jedes achte Kind mit Armut konfrontiert. Die Ursachen für Kinderarmut sind laut dem Deutschen Kinderhilfswerks vielfältig.
"Nach unseren Erfahrungen finden wir Kinder- und immer auch damit verbundene Familienarmut tendenziell oft bei Beziehern von Niedriglöhnen, Alleinerziehenden sowie bei Familien mit Migrationshintergrund und deren Kindern", sagt Anja Pertler, Sozialpädagogin beim Deutschen Kinderschutzbund, Kreisverband Würzburg. Demnach berge das geringe Einkommen der Eltern auch die Gefahr des Ausschlusses vom sozialen und kulturellen Leben. Davon sind auch Kinder betroffen, deren Eltern arbeitslos sind. So wie Denise Binder und Stefan Schwarz.
Stefan Schwarz kam vor einigen Jahren aus seiner Heimat Nürnberg nach Schweinfurt und wollte einen Neuanfang starten. Die Lehre zum Hotelfachmann brach er ab, arbeitete als Landschaftsgärtner und kämpfte sich bei Leiharbeitsfirmen durch. Seit einiger Zeit ist der Wurm drin. Dabei ist es sein größter Wunsch, endlich für seine Familie sorgen zu können. "Dem Kind und der Frau soll es gut gehen, das ist alles was zählt", sagt Schwarz. Er hadert zum einen mit dem Arbeitsmarkt in Schweinfurt. Zum anderen hätten ihn die widrigen Umstände und die Probleme mit der Armut immer wieder bei der Jobsuche beeinträchtigt.
Binder würde gerne wieder arbeiten
Dennoch gibt es Hoffnung. Er hat eine Stelle bei einer Zeitarbeitsfirma in Aussicht, wofür er noch einen Gabelstapler-Führerschein benötigt. Denise Binder hat nach einer Ausbildung zur Kinderpflegerin viele Jahre für eine Reinigungsfirma gearbeitet. Bis Jamie kam. "Dadurch wurde mein Vertrag nicht mehr verlängert", erinnert sich Binder. Eigentlich, sagt sie nachdenklich, wollte sie gerne wieder arbeiten. Über das Kind freuten sich die beiden sehr, die Sorgen wurden aber nicht kleiner. Und nun ist Binder erneut schwanger. Es wird wieder ein Mädchen. "Natürlich hat man auch ein bisschen Angst davor, wie das alles klappen soll."
Trotz finanzieller Engpässe legen Jamies Eltern großen Wert auf die richtige Betreuung und Erziehung. "Wir wollen einfach, dass es unserer Tochter gut geht", sagt Schwarz. Doch das wird ihnen nicht leicht gemacht. Am 1. des Monats kommen 568 Euro vom Arbeitslosengeld II. Bis zu Jamies drittem Geburtstag bekam die Familie dazu 250 Euro Familiengeld. Hinzu kommt das Kindergeld in Höhe von 194 Euro. Das sind 1.012 Euro im Monat. Da bleibt für die dreiköpfige Familie nicht viel Spielraum. Zumal immer wieder Rechnungen aus den Vormonaten beglichen werden müssen. "Wir stecken in der Zwickmühle und ich komme mir blöd und arm vor", sagt der Familienvater. Leiden muss darunter freilich nicht nur das Kind. Auch für die Eltern ist die Situation extrem belastend. "Mein Vater hatte vor einigen Monaten einen Schlaganfall. Wir hatten nicht mal Geld, um ihn zu besuchen", sagt Stefan Schwarz. Auch seinen Geburtstag will er nicht feiern. "Das Geld können wir uns sparen."
Zu den am stärksten von Kinderarmut betroffenen Städten in Bayern gehört Schweinfurt. Laut einer Studie der Bertelsmann Stiftung waren dort in den vergangenen Jahren 21,9 Prozent der Kinder von Armut betroffen. Darunter ist nun auch Jamie. Auf den ersten Blick merkt man es dem aufgeweckten Mädchen nicht an. Heute wird sie von ihrer Mutter vom Kindergarten abgeholt. Mit ihrem Roller flitzt sie über den Gehsteig, sodass sich Denise Binder beeilen muss, ihrer Tochter nachzukommen. Die Wege nachhause, zum Einkaufen oder zum Arzt werden allesamt zu Fuß zurückgelegt. Geld für den Bus oder gar ein eigenes Auto ist nicht vorhanden. Für das junge Mädchen kein Problem. Sie strotzt vor Energie. "Mama, Sandwich", ruft Jamie quengelnd, als sie auf dem Nachhauseweg an einem Imbissladen vorbeirollt. "Nein, das geht nicht", sagt Binder. "Wir sind gleich daheim."
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Zu Hause wartet Jamies Vater auf die beiden. Er steht in der Küche und bereitet das Mittagessen vor. Heute gibt es ausnahmsweise Lasagne. "Wenn Hackfleisch mal im Angebot ist, dann müssen wir gleich einen Vorteilspack kaufen", erklärt Stefan Schwarz seine Sparstrategie. Als Jamie und ihre Mutter zur Wohnungstür hereinkommen, begrüßt er seine Tochter, achtet aber gleich darauf, dass sie nicht in die Küche kommt. "Sie soll hier lieber nicht so oft rein, sie soll es nicht so mitkriegen", sagt er. Mit "mitkriegen" meint er die renovierungsbedürftigen Wände hinter der Küchenzeile, die das Gefühl von Armut vermitteln könnten. Die anderen Räume in der Wohnung sehen aufgeräumt aus. Die Wände sind ordentlich gestrichen. "Wir bringen die Wohnung nach und nach auf Vordermann. Da wo es nicht so aussieht, muss Jamie ja nicht hinsehen", sagt Schwarz.
Jamie ist mittlerweile fertig mit dem Essen. "Wie war es im Kindergarten?", fragt Stefan Schwarz auf Normalität bedacht. Gemeinsames Essen, Lernen oder Spielen. Dinge, auf die die Eltern besonderen Wert legen. Das Mädchen soll die Armut einfach nicht mitbekommen. Zumindest so gut es geht. Jamie nimmt einen kräftigen Schluck Eistee aus ihrem Glas. Mit beiden Händen hält sie es fest. Und dennoch kippt es ihr aus der Hand und sie vergießt etwas auf das Sitzpolster. "Jamie! Bitte! Das kostet alles Geld", sagt ihr Vater erschrocken. Wenige Augenblicke später ist es bereits vergessen. Er legt seinen Arm liebevoll um seine Tochter und malt mit ihr ein Bild aus.
Hilfe erhält die Familie auch von der Kindertafel
Ihm fällt es nicht schwer, über seine Situation zu sprechen. Vielmehr möchte er darüber reden. Als wäre es ihm ein Bedürfnis, die Missstände nach außen zu tragen. "Ich will auch mal nicht kochen müssen, mal Pizza holen oder Chicken Nuggets", sagt er und fügt hinzu: "Aber auch 2,99 Euro sind einfach zu teuer." Er fühlt sich mit seiner Familie vom Staat vernachlässigt. "Wie oft war ich schon im Amt. Aber ihnen ist es egal, ob ein kleines Kind zuhause sitzt oder nicht", sagt er betroffen. Gemeinsam mit seiner Lebensgefährtin ist er froh, auch private Hilfe von Freunden zu bekommen. Einer Freundin hat Jamie sogar ihren Roller zu verdanken. "Wir hätten uns den nicht leisten können."
Auf die Frage, ob Jamie die Armut mitbekomme, antwortet Stefan Schwarz ohne zu zögern: "Ja, definitiv." Dies passiere nicht nur dann, wenn sie keine Lollis, keine neuen Spielsachen oder keine teuren Kleider bekomme. "Natürlich merkt sie, wenn andere Kinder in den Urlaub fahren und wir nicht", sagt Denise Binder. Sie und Schwarz wollen deshalb alles dafür geben, dass es ihrer Tochter an so wenig wie möglich fehlt. Gerade bei der Ernährung wollen sie ihrem Kind keine Nachteile einräumen.
Hilfe bekommen sie dabei auch von der Kindertafel. Jeden Morgen bekommt Jamie im Kindergarten ein frisches Frühstück mit belegten Broten, Getränk und Rohkost. Finanziert wird die Leistung der Kindertafel durch Spenden. So werden neben Kindergärten auch Förder-, Grund- und Mittelschulen mit Pausenbroten beliefert. Auch in Würzburg werden täglich hunderte Brote geschmiert. Wie wichtig diese kostenlose Hilfe ist, weiß der Vorsitzende der Schweinfurter Kindertafel, Stefan Labus. Er kennt Jamie und viele andere bedürftige Kinder.
"Wir versorgen schultäglich 350 bis 400 Kinder alleine in Schweinfurt mit unseren Essens-Paketen", sagt Labus. Die Entwicklung sei erschreckend. Laut Labus nehme die Kinderarmut in der ganzen Region immer mehr zu. "Viele Eltern können sich ein Frühstück für die Kinder nicht leisten", sagt Labus.
Allerdings sieht er die Ursachen nicht nur in den finanziellen Notlagen der Eltern. Auch die generelle Vernachlässigung der Kinder nehme zu. "Wir hören immer wieder von Kindern, dass ihre Eltern weiterschlafen und sie deshalb nichts zum Essen dabei haben", so Labus. Andere Kinder seien sogar teilweise im Schlafanzug abgegeben worden.
Diese Probleme hat Jamie mit ihren Eltern nicht. Der Besuch bei der Familie zeigt ein harmonisches Zusammenleben der Eltern mit dem Kind. Am Nachmittag geht es nochmal an die frische Luft. Ein gemeinsamer Ausflug zum Spielplatz mit Mama, Papa und Tochter. Jamie ist schon ganz hippelig. Sie freut sich auf die Rutsche, das Trampolin und die Schaukel. Dort auf dem Spielplatz, sagt Stefan Schwarz, kann die ganze Familie mal abschalten. Dort könnte sie für einen Augenblick die Sorgen des Alltags vergessen.
Jamie tobt über den Spielplatz. Gemeinsam mit ihrem Papa hüpft sie auf dem Trampolin um die Wette. Irgendwann, sagt Denise Binder, will sie mit ihrer Tochter mal ans Meer fahren. Einmal einen Freizeitpark besuchen. Stefan Schwarz träumt davon, einen gut bezahlten Beruf zu haben. Am Liebsten in der Baubranche. Einen Job, mit dem er seine Familie gut versorgen kann. Der Gabelstapler-Job hat sich erledigt. Nachdem Schwarz bei einer Tankstelle und verschiedenen Zeitarbeitsfirmen angefragt hat, tut sich nun eine ganz neue Möglichkeit auf. Er beginnt eine Lehre als Friseur. "Das ist zwar etwas ganz anderes, aber die Arbeit und der Umgang mit Menschen taugt mir."
Es gibt vieles, was sich die kleine Familie aus Schweinfurt gerne leisten würde. Doch aktuell stellt sich die Frage nach Urlaub oder Luxus nicht. Aktuell lautet die Überlegung: Können wir uns den Schinken für 1,19 Euro, die Mango für 99 Cent oder das Brot für 1,13 Euro leisten?
Nachtrag: Einige Wochen nach den Recherchen hat der Autor erfahren, dass sich Denise Binder und Stefan Schwarz getrennt haben. Laut Aussagen beider führten gerade die finanziellen Engpässe, der Kampf gegen die Armut aber auch andere persönliche Probleme zu Rissen in der Beziehung. Ihre Tochter Jamie hat mittlerweile eine gesunde Schwester namens Lina Lou bekommen.