Am Mittwoch kam der erste Lkw. Drei, vier Stunden waren die Spediteure da und holten die erste Ladung mit großen, schweren Formaten. Lackarbeiten, Ölbilder, 2,5 Meter lang, 1,2 Meter breit. Die beiden Töchter von Johann Nußbächer hatten sie über Tage aufwendig verpackt. In der nächsten Woche wird die Spedition ein zweites Mal vors alte Schulhaus in Lengfurt kommen, dann vielleicht noch ein drittes Mal.
„Wir lösen auf, wir müssen raus“, sagt Lena Treugut. Ende Juli wird das Atelier, wird die Radierwerkstatt des Künstlers nicht mehr sein. Wohin nur mit allem? Mit diesem riesigen Nachlass an Tausenden von Radierungen, Lithografien, Gemälden, „Realen Fiktionen“? 200 Bilder wohl sind allein noch im vergangenen Jahr entstanden, sagt Lena Treugut.
Seit Wochen und Monaten ist sie nun hier, in der kleinen Gemeinde im Landkreis Main-Spessart, wo ihr Vater vier Jahrzehnte lang wirkte. Und sichtete und ordnete und organisierte und versuchte mit ihrer Schwester, einen Überblick zu bekommen über das sorgsam strukturierte, ästhetisch gestaltete Chaos.
Im vergangenen November ist Johann Nußbächer, 73 Jahre alt, gestorben. Und hat in den weitläufigen Räumen des alten Lengfurter Schulhauses einen einzigartigen Kosmos hinterlassen. Ein gewachsenes, gestaltetes Universum aus vollendeten und werdenden Werken, aus Farbe und Werkzeugen, Büchern und Notizen, Arrangements, gesammelten Objekten, bewahrten Materialien, gehegten Pflanzen . . . Seit Anfang der 1980er Jahre lebte und arbeitete der freischaffende Künstler hier im ehemaligen Schulhaus des Ortsteils von Triefenstein, direkt am Main.
Er hatte die alte Lehrerwohnung bezogen. Klassenräume und Lehrerzimmer wurden zu Atelier und Werkstatt, Galerie und Depot. Es riecht nach Lack und Kreide, Öl und Terpentin. Überall sind Farbflecken, kleben getrocknete Pigmente . . . und im Aschenbecher liegt noch die tatsächlich letzte Zigarette.
Elf Räume, 2500 Werknummern – Lena Treugut, Fotografin in Berlin, und Kerstin Nußbächer, Innenarchitektin in München, waren konfrontiert mit einer Welt für sich, die durchdrungen und durchzogen ist vom Wirken, Gestalten, Denken ihres Vaters.
Diese Zimmer auf vier Etagen . . . Balkon mit Südseite und ein Wahnsinnsausblick. Vor der Türe direkt der Main, dahinter nur Wald, Berge, Kloster. Das alte Schulhaus gehört noch dem Markt Triefenstein, die Gemeinde hat vor Jahren schon beschlossen, dass sie verkauft. Der Mietvertrag war gekündigt, Ende dieses Jahres hätte Johann Nußbächer ausziehen müssen aus seinem Reich.
Einem investitionsbedürftigen . . . alte Leitungen, Rohre, marode Decken. Seit 40 Jahren ist nichts saniert worden. Was immer der Käufer macht, er wird ein paar Hunderttausend Euro in die Hand nehmen müssen. Ein Grund, warum die beiden Töchter das Lebenswerk ihres Vaters nicht dort bewahren und erhalten können, wo es wuchs und entstand. Im geräumigen Bauwerk der Nachkriegsmoderne, 1957 in Betrieb genommen, lichtdurchflutet. Mit Platz für Nußbächers Experimentieren und Ausprobieren, für die Druckwerkstatt und das Hängen der leuchtend farbigen großen Gemälde der letzten Jahre.
Ein „Arbeitstier“ sei ihr Vater gewesen, sagt Lena Treugut. Perfektionistisch, anspruchsvoll, akribisch. Einer, der aus der Natur des Spessarts Kraft und Inspiration sog und dann versank in seiner kreativen Welt, in der alles seinen durchdachten Platz fand. Wenn sie jetzt durch die Räume geht, die Schränke und Regale ausräumt, aufräumt, ist die Fotografin immer wieder aufs Neue verblüfft, wie Johann Nußbächer arrangierte, ordnete, gestaltete. Tütchen voller Fundstücke hängen an der Wand – Vogelfedern, Steine, Ästchen, Schneckenhäuser, Moose. Aufgelesen bei den Spaziergängen und Wanderungen in der Heimat.
Drahtgestelle neben Dosen, irgendwo eine Plastiktüte mit türkisen Farbresten neben einer großen Topfpflanze. Keine Zufälle. Sondern Absicht. „Er mochte Material“, sagt die 37-jährige Fotografin. „Und er hat die Dinge so kombiniert, dass es an jeder Stelle nach Geschmack riecht.“
Dass der Künstler hätte ausziehen müssen Ende 2021 mit seiner bunten, geordneten Sammelsuriumswelt – „es stand seit Jahren im Raum“, sagen die Töchter. Jetzt versuchen sie, fast 50 Jahre unterfränkisches Kunstwirken zu sichten, sich durch Schubladen und Regale voller Tagebücher, Notizen, Literatur, Kunstbände zu arbeiten. Durch all die Mappen. „Und so viel wie möglich zusammenzuhalten.“ Von der neuen Bürgermeisterin Kerstin Deckenbrock bekommen sie viel Unterstützung. „Das ist ein außergewöhnliches Engagement.“
Im nächsten Jahr, hoffen Lena Treugut und Kerstin Nußbächer, soll es in Würzburg eine große Retrospektive geben. Johann Nußbächers Tausende Arbeiten aber sind erst einmal verpackt und auf dem Weg nach München. Die Idee, die empfindlichen Werke in Kellern, in Höfen, auf Dachböden bei Bekannten zu deponieren, haben sie verworfen. Der beseelte Kosmos kommt – geschützt und klimatisiert – in ein Kunstlager.
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