Als Yona-Dvir Schalem vor drei Jahren aus Jerusalem nach Würzburg kam, um seine Doktorarbeit im Fach Altorientalistik zu schreiben, war ihm zunächst nicht bewusst, dass er in der Geburtsstadt von Yehuda Amichai (1924-2000) leben würde, dem wohl prominentesten Dichter seines Heimatlandes. Seither setzt er sich besonders intensiv mit dessen Werk auseinander. Amichai wurde als Ludwig Pfeuffer in Würzburg geboren. 1936 emigrierte die Familie ins damalige Palästina.
Am 3. Mai wäre Amichai 100 Jahre alt geworden. Der Verein "Würzburg liest", die Stadtbücherei und die Gesellschaft für christlich-jüdische Zusammenarbeit ehren ihn zwischen dem 11. und 16. Mai mit einem Festakt und einer Veranstaltungsreihe. Yona-Dvir Shalem, 28, hat die Festschrift mit herausgegeben. Dieser Tage ist er in Jerusalem, um den Text- und Gedichtband "Dein Yehuda" der Öffentlichkeit zu übergeben, der am 12. Mai dann in Würzburg vorgestellt wird.
Yona-Dvir Shalem: Man muss heute einen Unterschied machen zwischen "Israel" und "Israel während des Kriegs". Ohne diesen Krieg gäbe es das ganze Jahr über Feierlichkeiten und Lesungen im ganzen Land. Jetzt, im Krieg, ist es schwierig zu entscheiden, was man genau machen soll. Am Geburtstag selbst wird es einige Veranstaltungen geben - eine Tour durch Jerusalem anhand von Amichais Gedichten, die Vorstellung unseres Buches "Dein Yehuda" und viele andere Lesungen und Feiern. Aber es ist unklar, wie viel Geld noch in Kultur fließt während dieses Krieges. Alle hier leben im Schmerz. Alle haben jemand verloren. Es ist eine sehr schwierige Zeit.
Shalem: Gott sei Dank lebe ich nicht mehr hier. Deshalb kann ich lieben ohne Krieg: in Würzburg. Das war mein Ziel, als ich da hinging. Aber für Yehuda Amichai war Würzburg auch ein Ort des Krieges. Hier in Jerusalem kann man das spüren: Der Krieg kommt mit ganz viel Liebe - zur Familie, zum Miteinandersein, zur Gesellschaft. Alle helfen einander, Liebe ist sehr präsent, auch wenn sie leider nicht allen Menschen gilt. Dieses Zusammengehörigkeitsgefühl schafft auch Distanz zwischen israelischen und palästinensischen Menschen.
Shalem: "Schwer" ist ein zu kleines Wort dafür. Es ist chaotisch. Vor allem das Gefühl, dass niemand versteht, was in mir in den letzten Monaten passiert ist. Mein bester Freundeskreis konzentriert sich jetzt mehr auf jüdische oder palästinensische Menschen, denn sie verstehen am besten. Sie haben Familie dort. Wir haben uns entschieden, weg zu sein von diesem Krieg, aber wir sind auch in Würzburg tief getroffen. Deshalb ist es gut, mit Yehuda daran zu erinnern, dass Würzburg jetzt im Vergleich mit Jerusalem ein kleines Paradies ist. Aber das war vor 80 Jahren nicht so. Meine Freundinnen und Freunde aus Deutschland, die keine direkte Verbindung zu diesem Land haben, sind wunderbar und verständnisvoll, aber oft gibt es zu viel zu erklären und zu wenig Energie, um dies zu tun.
Shalem: Es unglaublich zu sehen, wie kreativ Menschen sein können. Wenn man seine Biografie liest, erfährt man, dass er ja auch Soldat war. Er hat in Kriegen gekämpft. Und das kann man nutzen, um zu zeigen, wie wichtig es ist, andere Menschen zu töten, um über den Frieden zu herrschen. Aber über den Frieden herrscht man nicht, das sagt Yehuda ganz klar. Er hat unter dem Eindruck seiner Kriegserfahrungen angefangen zu schreiben. Seine Witwe Chana sagt, er war zerrissen und konnte nicht allein mit diesen Traumata weiterleben. Heute würden wir es posttraumatisch nennen.
Shalem: Diese Art von Gedichten wird gerade eben nicht gelesen. Er sagt auch "An dem Ort, an dem wir recht haben, werden niemals Blumen wachsen". Ich glaube, wenn man so verletzt ist, wie die Menschen jetzt in Jerusalem sind, ist es schwierig, Zweifel zuzulassen.
Shalem: In der ersten Zeit war es so. Für viele in meiner zionistischen Familie ist Deutschland immer noch ein Synonym für Böse. Deshalb haben viele Menschen in Deutschland immer noch diese Sehnsucht nach Unschuld. Aber das heutige Würzburg ist anders, mein Freundeskreis ist bunt, es gibt viele Kinder der Gastarbeiter, viele internationale Studenten, viele verschiedene Menschen. Das ist für mich Würzburg. Aber wenn ich eine Fahrradtour aufs Land mache, ist es anders. Dann denke ich: Wow, das ist Weinburg. Wenn ich dort sage, dass ich jüdisch bin, merke ich Befangenheit. In Würzburg ist es nur einer von vielen Teilen meiner Identität.
Shalem: Das ist eine schwierige Frage. Er hat immer genau unterschieden zwischen dem Antisemitismus zwischen Christen und Juden und dem zwischen Muslimen und Juden. Das sind zwei vollkommen verschiedene Monster. Ich beobachte oft, dass Kritik an israelischer Politik sehr schnell als Antisemitismus bezeichnet wird. Aber diese Art von Tabuisierung von Kritik, ob an Juden oder an Israel, ist auch eine Form von Antisemitismus. Yehuda war einfühlsam und hatte Verständnis für den Schmerz von Palästinenserinnen und Palästinensern - auch er hat seine Heimat verloren und wurde diskriminiert. Ich bin mir nicht sicher, dass er all das, was jetzt im Heiligen Land passiert, als Antisemitismus bezeichnet hätte.
Shalem: Erstmal das Zweifeln: Wenn man denkt, man hat Klarheit, liegt man auf jeden Fall falsch. Und: das Verzeihen. Er kam nach Weinburg/Würzburg zurück für Rache, hat das aber dann nicht gemacht. Er hat ein Leben lang versucht herauszufinden, wie ein Mann aus Weinburg in Jerusalem leben kann, ohne die ganze Zeit wütend zu sein. Das ist eine schwierige Aufgabe, aber ich glaube, die Deutschen können es auch lernen. Es gibt hier das große Tabu, was die Eltern und Großeltern im Krieg gemacht haben, auch und gerade in linken Kreisen. Die Deutschen könnten ihren Vorfahren sagen: Hey, was Ihr gemacht habt, war wirklich schlimm. Aber jetzt verzeihen wir Euch. Lass uns den Fokus auf Liebe und Vergebung setzen.
Das Programm zum 100. Geburtstag von Yehuda Amichai steht im Internet unter wuerzburg-liest.de