
Als Ludwig Jehuda Pfeuffer wurde der berühmte israelische Lyriker im Mai 1924 in Würzburg geboren, in diesem Jahr wäre er 100 Jahre alt geworden – Anlass für die Stadt Würzburg, einen Jehuda-Amichai-Literaturpreis auf den Weg zu bringen und im Lauf des Jahres 2024 zu verleihen.

Ludwig wuchs mit einer älteren Schwester an der Alleestraße auf, der heutigen St. Benedikt-Straße. Die Familie lebte traditionell gesetzestreu, gehörte also zur orthodoxen Mehrheit der Jüdischen Gemeinde – und sie war zionistisch eingestellt. Auf allen Fotos ist der junge Ludwig mit einer Kopfbedeckung zu sehen. Sein Vater Friedrich Pfeuffer war ein Kaufmann, der mit seinem älteren Bruder Samuel einen Großhandel für textilen Möbel-Besatz sowie für Kurzwaren und Futterstoffe an der Domerschulstraße führte. Er erkannte frühzeitig die Gefahren, die der jüdischen Bevölkerung vonseiten der Nationalsozialisten drohten.
Emigration ins britische Mandatsgebiet Palästina
Die Familie von Friedrich Pfeuffer sowie Samuel und seine Frau entschieden mit weiteren Verwandten, ins britische Mandatsgebiet Palästina, nach Erez Israel zu emigrieren. Zwei erwachsene Söhne Samuels lebten dort bereits seit 1934. Ende Juli 1936 verließen Friedrich, Samuel und ihre Familien Würzburg mit dem Zug und setzten von Triest in Italien nach Haifa über. Auch Möbel und Hausrat hatten sie verschifft. Die Großfamilie entging so der Vernichtung der europäischen Juden durch das nationalsozialistische Deutschland, niemand fiel der Shoa zum Opfer.
In Jerusalem führte Ludwig seinen hebräischen Namen Jehuda und nahm als junger Mann schließlich den Nachnamen Amichai an. Wenig später begann er, Gedichte zu schreiben – in der Sprache des modernen Israel, auf Ivrit. Hebräisch hatte er bereits in Würzburg in der Jüdischen Volksschule gelernt. Die Themen, die ihn am meisten beschäftigten, der Krieg und die Liebe, bestimmten seine Lyrik.
Doch auch mit dem Holocaust, an den die Weltgemeinschaft am heutigen 27. Januar erinnert, und mit seinen fränkischen Wurzeln hat er sich befasst. Er verwob beides miteinander in einem seiner wenigen Romane. "Nicht von jetzt, nicht von hier" erschien 1963 in Israel und erst 1992 auf Deutsch. Das Buch stand 2018 im Zentrum der eindrucksvollen Veranstaltungsreihe "Würzburg liest".
Die Geburtsstadt Würzburg als Tatort des Holocaust
1959 hatte Amichai zum ersten Mal wieder Würzburg besucht. Er ließ diese Erfahrung wie auch die Eindrücke seiner Kindheit in den Roman einfließen – ohne autobiographisch zu schreiben. Mit fiktionalen Mitteln entwarf er Würzburg unter dem Namen Weinburg als seinen persönlichen Ort der Erinnerung und als Tatort des Holocaust. Und er konstruierte seine Freundin aus Kindertagen, die "Kleine Ruth" als Repräsentantin des Holocaust in der Stadt seiner Kindheit.
Ruth Fanny Hannover war 1923 als Tochter des Würzburger Rabbiners Siegmund Hanover geboren worden. Ihre Mutter Klara starb früh und der Vater heiratete erneut. Da eine ältere Stiefschwester ebenfalls Ruth hieß, nannte die Familie die jüngere Ruth nun die "kleine Ruth". Hätte sie länger leben dürfen, hätte sie sich wohl energisch gegen diese Verniedlichung zur Wehr gesetzt...

Schon seit dem Kindergarten-Alter war sie mit Ludwig Pfeuffer befreundet. Die Familien Hanover und Pfeuffer wohnten seit 1928 in derselben Straße, die Kinder spielten häufig miteinander und gingen zusammen in die jüdische Volksschule. Im Alter von elf Jahren verlor Ruth infolge eines Fahrradunfalls ein Bein. Ludwig wie auch andere Kinder der Jüdischen Gemeinde besuchten sie während ihres langen Krankenhausaufenthalts.
Als sie wieder in die Schule gehen konnte, trug Ludwig ihre Schultasche – bis sie ihre Selbständigkeit wieder einforderte. Als Ludwig 1936 mit seiner Familie nach Palästina emigriert war, schrieb Ruth ihm noch längere Zeit Briefe. Doch Ludwig, nun Jehuda, lebte in einer neuen Welt und antwortete ihr bald nicht mehr.

Der Kontakt zwischen den Familien riss jedoch nicht ab. Ruths Schwestern konnten 1938 nach Palästina auswandern und wohnten teilweise bei der Familie Pfeuffer. Die 14-jährige Ruth reiste hingegen im Januar 1939 mit einem Kindertransport in die Niederlande aus. Sie lebte bei verschiedenen Pflegefamilien in Amsterdam. Nach dem Besuch des Jüdischen Gymnasiums begann sie eine Ausbildung zur Zahntechnikerin. Die von ihr erhaltenen Briefe an die Familie zeigen eine kluge und selbstbewusste Jugendliche. Die jedoch die großen Herausforderungen ihres Lebens völlig allein bewältigen musste – und damit bisweilen überfordert war.
Aufgrund ihrer Behinderung bekam sie kein Visum für Palästina oder die USA, wo die anderen Mitglieder ihrer Familie inzwischen lebten. Auch Friedrich Pfeuffer in Jerusalem, der Vater von Jehuda, setzte sich vergeblich für sie ein. Im Mai 1943 wurde Ruth über das Sammellager Westerbork aus den Niederlanden nach Sobibor im besetzten Ostpolen deportiert und dort ermordet. Sie wurde keine 20 Jahre alt.
Der Ich-Erzähler in Amichais Roman "Nicht von jetzt, nicht von hier" reist nach Weinburg, um Rache zu üben – vor allem für den gewaltsamen Tod seiner Kindheitsfreundin Ruth, die im Roman Ruth Mannheim heißt. Doch Hass und Rache kommen zu spät, konkrete Täter sind nicht zu finden. So sammelt er auf seinen fiktionalen Wanderungen durch die Stadt Informationen, Fotos, Dokumente, spricht mit Ruth über ihre gemeinsame Kindheit, befragt Zeugen, rekonstruiert die letzte Lebenszeit seiner Freundin.
Zu seiner Rekonstruktionsarbeit gehört, dass er als Statist an einem Dokumentarfilm über eine Deportation aus Würzburg teilnimmt. Am Ende kommt er zu dem Schluss, dass seine wahre Rache ist, "nicht mehr die Schönheit Weinburgs im Herzen zu tragen, sondern die Erinnerung an sie auszulöschen". Seine Erinnerung konzentriert sich auf ein Foto von Ruth am Tag ihrer Deportation aus Würzburg. Es zeigt sie mit klarem Blick, "mit dem Stolz und der Stärke eines Kämpfers im Ring".
Ein Gedicht zu einem Kindheitsfoto mit Ruth Hanover
Die Rolle von Ruth Hanover als Holocaust-Opfer im Werk von Amichai geht über den Roman hinaus, die ermordete Kindheits-Freundin taucht verschiedentlich in seiner Lyrik auf. Im Mittelpunkt steht dabei ebenfalls ihr Schicksal als Holocaust-Opfer, ihr früher Tod und die Erinnerung an sie - wie in dem Gedicht "Kleine Ruth" (1994). Ein Auszug daraus wird in einem offenen Koffer am "DenkOrt Deportationen" in Würzburg gezeigt. In einem weiteren Gedicht ("All dies erzeugt einen tanzenden Rhythmus"; 1980) geht es ums Älterwerden, um ein Foto und um den Tod eines kleinen Mädchens. Dieses Foto gibt es wirklich, und darauf ist Ruth zusammen mit Ludwig Jehuda zu sehen:
Vor einer ganzen Weile fand ich ein altes Foto, / darauf ein kleines Mädchen, das schon lange tot ist, und ich. /
Wir saßen nebeneinander in kindlicher Umarmung vor einer Mauer, / an der ein Birnbaum hochwuchs: sie hatte eine Hand / auf meine Schulter gelegt und die andere streckte sie mir /
von den Toten entgegen, jetzt. (Auszug)

Amichai selbst hat in einem Interview die Rolle von Ruth Hannover für sich und sein Werk beschrieben: "Ruth ist meine private Anne Frank. […] Heute ist sie ein Teil von mir. Meine Zeugin, wie meine Eltern."
Quellen: Jehuda Amichai, "Nicht von jetzt, nicht von hier"; "Zwischen Würzburg und Jerusalem. Gedichte von Jehuda Amichai", übers. und hg. v. Amadé H.D. Esperer; Renate Eichmeier/ Edith Raim (Hgg.), "Zwischen Krieg und Liebe. Der Dichter Jehuda Amichai"; Eric Hilgendorf/ Daniel Osthoff (Hgg.), "Erinnerung als Ausweg. Beiträge zu Jehuda Amichais Roman 'Nicht von jetzt, nicht von hier'".
Dr. Rotraud Ries ist Historikerin und Expertin für deutsch-jüdische Geschichte. Sie leitete von 2009 bis 2022 das Johanna-Stahl-Zentrum für jüdische Geschichte und Kultur in Unterfranken und hatte maßgeblichen Anteil am Projekt "DenkOrt Deportationen".