Kurz vor Weihnachten wurde es geräumt und brannte ab, jetzt sollen mehr als tausend Geflüchtete doch weiter im Flüchtlingscamp Lipa in der Nähe der bosnischen Stadt Bihac bleiben. Mitten im Winter, ohne fließendes Wasser, Strom oder ein stabiles Dach über dem Kopf: Nur etwa 900 Kilometer von Unterfranken entfernt spielt sich an der Grenze zwischen Bosnien/Herzegowina und Kroatien seit Wochen eine humanitäre Katastrophe ab.
Inzwischen verweigern einige Flüchtlinge im Lager aus Protest gegen die Zustände Hilfsgüter und medizinische Versorgung. Ein Gespräch mit Jonas Hermes, der als ehrenamtlicher Flüchtlingshelfer des Würzburger Vereins "Hermine e.V." seit knapp zwei Wochen vor Ort in Bihac hilft.
Jonas Hermes: Seit Samstag ist es so, dass viele Menschen im Camp aus Protest jegliche Hilfe von außen verweigern. Inzwischen steht hier eine Reihe von Armeezelten, die aber bis jetzt noch nicht bewohnt werden dürfen. Ich bezweifle auch, dass die Anzahl der Zelte für die Menschen ausreichen wird, die uns dort begegnet sind. Wir schätzen sie auf ungefähr tausend. Genauere Zahlen zu nennen ist sehr schwierig, weil auch zwischen Bihac und der Grenze überall Flüchtlingsgruppen anzutreffen sind. Sie halten sich in verlassenen Containern der Hilfsorganisationen, in verlassenen Gebäuden, auf Feldern oder im Wald auf. Die Situation ist insgesamt sehr unübersichtlich.
Hermes: Gerade wollten wir außerhalb des Camps Zelte, Schlafsäcke und Lebensmittel verteilen. Dabei kam es zu einer gewalttätigen Auseinandersetzung mit großen Steinen und Ästen, so dass wir die Verteilung zu unserer eigenen Sicherheit abbrechen mussten. Aus meiner Sicht gibt es eine Gruppe, die den Protest weiter betreiben will. Andere Menschen möchten unsere Versorgungsgüter gerne haben, werden daran aber mit Gewalt gehindert. Sie wurden von unseren Autos weggeprügelt."
Hermes: Wir haben hier Menschen erlebt, die mit Flip Flops an den Füßen im Schnee stehen und uns zitternd das Essen aus der Hand nehmen. Wir haben Leute gesehen, die sich im Schneesturm in ihrer Unterwäsche in Schmelzwasserpfützen gewaschen haben. Inzwischen ist es zwar etwas wärmer geworden, aber sobald die Temperaturen wieder sinken, wird die Situation lebensgefährlich. Das wird dadurch verstärkt, dass ein Großteil im Moment sogar ärztliche Hilfe verweigert. Als ich am Samstag zusammen mit Ärzten zuletzt im Camp war, haben uns die Menschen dort "no doctor, go out" entgegengerufen. Die Ärzte konnten dann nur ein oder zwei Leute behandeln.
Hermes: Die Geflüchteten protestieren – aus meiner Sicht im Grundsatz völlig zu Recht – gegen die Flüchtlingspolitik der EU und gegen die Lebensumstände in Lipa, die schon vor der Räumung des Camps und dem Brand am 23. Dezember untragbar waren. Ich verstehe den Protest sehr gut, bin aber der Meinung, dass das unter diesen Bedingungen wirklich lebensgefährlich ist. Die Fotografin Alea Horst hat mir erzählt, dass im Camp viele Menschen krank sind und dringend medizinische Hilfe brauchen. Es handelt sich um eine humanitäre Katastrophe. Bei jeder anderen Katastrophe, die nicht das Thema Flucht und Migration betrifft, hätte Europa schon längst Hilfe geschickt. Wir brauchen hier nicht ein paar ehrenamtliche Helfer, wir brauchen das THW.
Hermes: Das ist richtig. Ich kann aber nicht sagen, warum das so ist. In meinen Gesprächen mit den Menschen hier in Bosnien habe ich allerdings den Eindruck bekommen, dass nur sehr wenig von den überwiesenen Hilfsgeldern der EU auch wirklich vor Ort angekommen sind.
Hermes: Das kann ich nicht bestätigen, wir erleben die Bevölkerung hier vor Ort als sehr hilfsbereit. In den letzten Tagen haben uns Menschen Essen, gute Kleidung und für bosnische Verhältnisse auch sehr hohe Geldsummen gegeben, um die Geflüchteten zu versorgen. Ich habe sie auch nicht als fremdenfeindlich erlebt. Die bosnische Bevölkerung ist aus vielen Gründen selbst schon am Limit. Und dann soll sie sich noch um Flüchtlinge kümmern, die an ihrer Grenze stranden, weil sie nicht in die Europäische Union einreisen dürfen. Die Menschen hier sind nicht gegen die Geflüchteten, sondern sie wollen nicht mehr als Spielball der EU-Politik behandelt werden. Im Endeffekt haben die Menschen im Camp und die Bewohner von Bihac das gleiche Interesse: Dass die EU damit aufhört, durch ihre unmenschliche Asyl- und Migrationspolitik Menschen zu schaden.
Hermes: Ich bin weniger in direktem Kontakt mit den Geflüchteten, sondern kümmere mich um die Logistik, damit die Hilfsgüter auch bei den Menschen ankommen. Wir unterstützen SOS Bihac bei der Verteilung von Schlafsäcken, Lebensmitteln, kleine Pfannen, Wasser oder Tee. Jeder Tag läuft anders ab, es kann auch sehr frustierend sein. Wir waren schon zweimal mit unserem vollbeladenen Hermine-Transporter unterwegs, durften die mitgebrachten Zelte dann aber auf Anordnung der Behörden nicht verteilen. Dabei hätten wir damit vielen Leuten das Leben erleichtern können.
Hermes: Über die Weihnachtsfeiertage hatten wir viel Arbeit, weil am 26. Dezember die erste große Verteilung stattgefunden hat. Die Koordination und Vorbereitung hat eineinhalb Tage gedauert, weil es auch für SOS Bihac das erste Mal war, dass mehr als tausend Menschen zu versorgen waren. Es ist logistisch sehr schwierig, die Hilfsgüter so zu verteilen, dass möglichst alle etwas bekommen und dass es dabei ruhig bleibt. Das sind Leute, die seit Wochen und Monaten unter schwierigsten Bedingungen leben. Das ist ein Pulverfass, deshalb geht das nur unter Polizeischutz und jeder muss genau wissen, was er tut. Seit Ende Dezember sind wir vom Hermine-Netzwerk zu viert hier.
Hermes: Ich bin schon ziemlich erfahren mit der bayerischen Asylpolitik und gehe deshalb hier in Bihac mit derselben Kaltschnäuzigkeit an die Arbeit, wie ich es auch zuhause tue. Ich arbeite im Ankerzentrum in Schweinfurt als Musik-Förderlehrer. Wenn ich jedes Mitgefühl und alle Emotionen ausschalte, ist es für mich kein großer Unterschied, was die bayerische, deutsche oder europäische Migrationspolitik tut. Die Geflüchteten werden einfach irgendwo abgestellt und es wird ihnen klar gemacht, dass sie nicht gewollt sind. In meinen Augen werden sie gefoltert. Im Ankerzentrum psychisch, und hier in Bihac eben körperlich."