Als Expertin, als Welterklärerin ist sie in diesen Wochen besonders gefragt – im Fernsehstudio, für Interviews oder Vorträge. Die Europäische Union und deren Zusammenrücken angesichts russischer Aggression, vor allem aber Frankreich zwischen Präsidentschafts- und Parlamentswahl – das sind Leib- und Magenthemen für Gisela Müller-Brandeck-Bocquet, die Würzburger Professorin für Europaforschung und internationale Politik.
Einsatz für Erhalt der Politikwissenschaft in Würzburg
Seit April ist "MBB" – wie sie Studierende, Mitarbeitende und Kolleginnen und Kollegen der Kürze wegen nannten – im Ruhestand. Mit der 66-Jährigen, die ihren Dreifachnamen auch der Ehe mit dem französischen Physiker Dr. Christian Bocquet verdankt, geht eine Professorin, die die Politikwissenschaft an der Uni Würzburg über 25 Jahre geprägt hat. Oder vielleicht noch mehr: die das Fach hier gerettet hat.
Denn Mitte der 2000er Jahre hatte ernsthaft die Abwicklung des Instituts gedroht, das stellenmäßig auf ein Minimum gestutzt worden war. MBB kämpfte erfolgreich für den Erhalt. Sie war 1997 als Vertretungsprofessorin nach Würzburg gekommen, 1999 erhielt sie die Professur mit Schwerpunkt Europaforschung und Internationale Beziehungen. Schnell wurde Müller-Brandeck-Bocquet zum Gesicht des Instituts, setzte sich als Frauen-Beauftragte der Fakultät für mehr Gleichstellung ein.
Der Preis, die Politikwissenschaft in Würzburg zu halten, war schließlich eine Fusion mit der Soziologie zum gemeinsamen Institut. Ein Wendepunkt und Startschuss zugleich. Unter dem gemeinsamen Dach nahmen MBB und Mitstreiter in der Zeit der allgemeinen Umstellung der Studiengänge auf das Bachelor-Master-System den Neuaufbau in Angriff.
"Verschulter" sei das Studium der Politikwissenschaft dadurch geworden, sagt die Professorin, "aber durchaus strukturierter". Studierende hätten inhaltlich weniger Wahlfreiheiten. Doch gerade geistige Autonomie, Eigeninteresse, selbstständiges Hinterfragen von Sachverhalten und politischen Zusammenhängen ermöglichen erst den kritischen Diskurs, wie ihn MBB immer anstoßen und vorantreiben wollte.
Kopftuchstreit löste bundesweiten Shitstorm aus
Die Politologin spricht (und schreibt) Klartext, Studierende in ihren Seminaren und Vorlesungen lernten die Professorin als streitbar in der Sache und bisweilen provokativ in ihrer Art kennen. Nicht alle kamen damit zurecht. Und einmal, so nahmen es die Beteiligten damals wahr, schoss sie übers Ziel hinaus: 2017 forderte sie in einer Vorlesung eine muslimische Studentin auf, ihr Kopftuch abzunehmen – so wie sie generell aus Respektsgründen das Ablegen von Mützen und Käppis wünschte.
Der Vorgang entfachte Proteste und einen Shitstorm in den Sozialen Medien, wie ihn sich die Wissenschaftlerin bis dahin nicht vorstellen konnte. Bei ihrer Verabschiedung jetzt sprach sie vom "schwärzesten Moment ihrer Laufbahn". Und ja, sie habe sich damals mehr Rückhalt durch Fakultäts- und Hochschulleitung erhofft. Gerade für sie, die der internationalen Verständigung und dem interkulturellen Austausch stets so viel Bedeutung beimaß. Für die die aktuelle "Zeitenwende" ein Indiz dafür ist, wie wichtig vertiefte Kenntnisse anderer Länder, Systeme und Kulturen sind.
Neuen Schwerpunkt zu Indien an der Uni Würzburg aufgebaut
Auch deshalb hat sie vor zehn Jahren gemeinsam mit Mitarbeitenden ihres Instituts einen neuen Schwerpunkt begründet, gefördert vom Bundesforschungsministerium und dem Deutschen Akademischen Auslandsdienst (DAAD). "Plötzlich waren wir in Deutschland die Experten für das moderne Indien", erinnert sich MBB sich fast ein wenig ungläubig. Denn die Kooperation vor allem mit der Jawaharlal-Nehru-Universität in Neu-Delhi entwickelte rasch eine beachtliche Dynamik mit wechselseitigen Aufenthalten von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern in Indien und in Würzburg.
Ihre wissenschaftliche Karriere hatte Müller-Brandeck-Bocquet am Geschwister-Scholl-Institut in München unter dem renommierten Politologen Kurt Sontheimer begonnen. Damals schon forschte sie über umweltpolitische Themen. "Es war schon in den 90er Jahren ein Fehler, den Klimaschutz auf die Industriestaaten zu beschränken", blickt sie zurück. An der Erfolglosigkeit im Kampf gegen die Erderwärmung zu verzweifeln? Das entspräche nicht ihrem Verständnis: "Wissenschaft beschreibt, erklärt – handeln müssen andere."
Die europäische Einigung als große Leidenschaft der Politik-Expertin
In den 90er Jahren wandte sich die Professorin ihrer großen persönlichen Leidenschaft zu – dem europäischen Einigungsprozess. Für ihre unermüdliche Forschung- und Lehrtätigkeit dazu wurde sie 2017, just im Jahr des Kopftucheklats, von der Europäischen Kommission mit einem Jean-Monnet-Lehrstuhl ausgezeichnet.
Mit Gisela Müller-Brandeck-Bocquet verlässt eine bekennende und versierte Europäerin die Universität Würzburg. Dass sich die Mutter zweier erwachsener Kinder in ihre Münchner und bretonische Privatheit zurückzieht, ist unwahrscheinlich. Gerade hat sie ihr Buch zur deutschen Europa-Politik von Adenauer bis Merkel aktualisiert, aktuell übersetzt sie es ins Englische.
"Wissen für die Gesellschaft": Das Motto der Uni Würzburg hat die Politologin mit öffentlichen Veranstaltungen und Kongressen gelebt. Und als Expertin wird sie weiter gefragt sein, wie erst vergangene Woche im "ARD Alpha"-Studio. So wird sie auch künftig ein wenig die Welt erklären – nicht "nur" für ihre Würzburger Politik-Studierenden.