Die russische Invasion in die Ukraine lässt Europa zusammenrücken. Politisch, wirtschaftlich und auch militärisch stellt sich die EU gegen die Aggression aus Moskau. Wäre sie zu verhindern gewesen? Und was bedeutet der Krieg für die Ordnung auf dem Kontinent? Fragen an Prof. Gisela Müller-Brandeck-Bocquet, Europaforscherin und Politikwissenschaftlerin an der Universität Würzburg.
Prof. Gisela Müller-Brandeck-Bocquet: Ja. Dass man die Ukraine von drei Seiten angreift und sich nicht auf die Donbass-Region beschränkt – das hat mich, wie so viele, dann doch überrascht. Wobei sich die Frage stellt: Wer hat überhaupt noch Einfluss auf Putin und sein inzwischen seltsames Weltbild? Wie man hört, wohl niemand mehr.
Müller-Brandeck-Bocquet: Dass Putins Handeln offenbar jede Rationalität verloren hat und ihn niemand mehr kontrollieren kann, das ist wohl im Moment die größte Gefahr. Mit Blick auf die neue Drohung mit Atomwaffen wirkt das geradezu gespenstisch und dramatisch. Putin hat sich über die Jahre abgekapselt, er hört niemandem mehr zu. Ein nuklearbewaffneter, nicht kontrollierbarer Despot – was gibt es Schlimmeres auf der Welt?
Müller-Brandeck-Bocquet: Es gab ja erstaunlich klare Ansagen aus dem Westen und Sanktionen, die wirklich scharf sind. Das müsste eigentlich Putin oder zumindest seine Entourage zur Räson bringen, so dass der Widerstand gegen den Präsidenten wächst. Denn die Sanktionen werden echt weh tun. Uns auch, aber den Russen noch sehr viel mehr.
Müller-Brandeck-Bocquet: Ja, absolut. Seit der Annexion der Krim 2014 wurde die Bedrohung in der EU sehr unterschiedlich wahrgenommen. Auf der einen Seite die mittel- und südeuropäischen Länder, auf der anderen Seite Osteuropa und das Baltikum, die konstant vor der russischen Gefahr gewarnt haben. Dieser Meinungsunterschied war immer ein Spaltpilz. Aber in Anbetracht dieser radikal neuen Lage steht die EU gut zusammen. Diese auch transatlantische Geschlossenheit tut dem Westen gut und sollte der russischen Seite zeigen: Auch wir meinen es ernst.
Müller-Brandeck-Bocquet: Da wären die einzelnen Schritte zu betrachten. Bei der Abkopplung vom Swift-Zahlungssystem wird man erst die Folgen abwarten müssen. Aber grundsätzlich waren die Sanktionspakete eine sehr starke Antwort auf diesen Angriffskrieg. Wichtig war, dass sie schnell und geschlossen inklusive USA und Kanada verhängt wurden. Das war schon ein gutes Zeichen.
Müller-Brandeck-Bocquet: Als Europaspezialistin habe ich davon noch nie gehört. Man kann der Ukraine eine weiter vertiefte Partnerschaft anbieten. Aber ich bin entsetzt, wenn man jetzt über einen EU-Beitritt der Ukraine spricht. Die Ukraine ist nicht reif für die Nato. Und sie ist noch viel weniger reif, der EU beizutreten. Wir haben schon so viele Schwierigkeiten mit EU-Kandidaten, dass ein irgendwie abgekürzter Beitritt der Ukraine die EU selbst vor eine Zerreißprobe stellen würde. Da würde man das Kind mit dem Bade ausschütten. Man muss die Nerven behalten.
Müller-Brandeck-Bocquet: Es gibt vor allem noch viel zu viel Korruption.
Müller-Brandeck-Bocquet: Ich denke, sie sind notwendig. Was sie mittelfristig bewirken, lässt sich aber noch nicht abschätzen. Aber weil Sie die Kehrtwende ansprechen: Bis Mittwochnacht war es richtig, dass Deutschland keine Waffen geliefert hat. War es richtig, dass wir versucht haben, Kommunikationskanäle mit Russland aufrechtzuerhalten. Nach dem Überfall auf die Ukraine haben wir aber eine vollkommen andere Lage. Alles ist anders. Auch der deutsche Umgang mit Waffenlieferungen.
Müller-Brandeck-Bocquet: Die gesamte westliche Welt hat verstanden, dass wir vor einer vollkommen neuen Situation stehen, die in ihrer Aggressivität und Gefährlichkeit vollkommen neue Antworten erfordert. Der Druck, neue Wege zu beschreiten, war immens. Es ist positiv, wenn die Handelnden unter derart veränderten Bedingungen sagen: Dialogbereitschaft war bis gestern, heute braucht es andere Entscheidungen. Das ist in einem Tempo und in einer Radikalität erfolgt, die einen hoffnungsfroh machen mit Blick auf Lernfähigkeit von Politik.
Müller-Brandeck-Bocquet: Ja, wobei über die politisch-wirtschaftlichen Achsen hinaus die normativen Dimensionen im Zusammenleben der Völker, also unsere Wertvorstellungen, berührt sind. Und auch geopolitisch könnte sich einiges verschieben. In welcher Form, dazu müsste man den Ausgang dieses Krieges kennen. Davon wird vieles abhängen. Wir erleben definitiv Veränderungen historischen Ausmaßes – in welche Richtung sie sich dann auswirken, können wir jetzt noch nicht sagen.
Müller-Brandeck-Bocquet: Sollte Russland deeskalieren wollen, dann muss man eine Lösung suchen, mit der Putin halbwegs ohne allzu großen Gesichtsverlust aus diesem Krieg wieder herauskommt. Das Erschütternde ist ja: Man hat in vielen Gesprächen im Vorfeld dieses Angriffs Verhandlungen angeboten über Fragen, die in der berühmten Nato-Russland-Grundakte von 1997 nie richtig geklärt wurden. Damals hieß es: In den neu aufgenommenen Nato-Staaten werden keine Nuklearwaffen und keine substanziellen Truppenverbände stationiert. Das ist auch nie erfolgt. Deshalb lügt Putin, wenn er behauptet, die Nato sei ihm jenseits der Verträge zu nahe gerückt. Über solche Dinge könnte man jetzt vielleicht erneut diskutieren – aber recht viel mehr wird nicht gehen. Die Nato kann sich ja nicht aus den Staaten zurückziehen. Eine Finnlandisierung der Ukraine ist sicher auch keine Lösung. Da muss noch viel diplomatische Fantasie entwickelt werden.
Müller-Brandeck-Bocquet: Sie waren eindeutig nur Vorwand. Putin hat mehr Angst vor der Demokratie in der Ukraine und im eigenen Land als vor der Nato, die ja nicht vorrückt.
Müller-Brandeck-Bocquet: Ich kann nicht in seine Seele blicken. Aber Putins Entwicklung zum autoritären Herrscher kann man nicht losgelöst sehen von globalen Veränderungen. Wir beobachten weltweit wieder mehr Nationalismus und Autoritarismus – da ist Putin momentan vielleicht die Speerspitze, aber er ist nicht allein.
Müller-Brandeck-Bocquet: Trump als Präsident war der worst case, weil er die Nato für obsolet erklärt hat. Das hat Putin in der Vorstellung bestärkt, dass der Westen zerstritten und schwach sei. Dann der chaotische Abzug aus Afghanistan. Da hat die Nato kein gutes Bild abgegeben. Aber Putin hat nicht realisiert, dass Europa enger zusammengerückt ist und sich mit Bidens Amtsantritt die transatlantischen Beziehungen wieder verbessert haben.
Dieser Mensch ist jeglicher Realität längst entschwunden.
So bitter es ist: Ich sehe die einzige Möglichkeit für eine friedliche Lösung dieses Konflikts, dass Putin, nach langjährig geübter Art des FSB, plötzlich nach Unbekannt verschwindet.
Denn gesichtswahrend kann er sich aus diesem Schlamassel nicht mehr zurückziehen. Darin sehe ich die wirkliche Gefahr!
Die Ukraine gilt immer noch als eines der korruptesten Länder Europas, und erfüllt nicht mal ansatzweise die Kriterien für ein Beitrittsland. Bei allem Verständnis für die Ukraine, aber man sollte dieses Land jedoch noch lange nicht, als den europäischen Werten verhaftet, betrachten!
Ich höre Erdogan würde schon aufheulen hören, sollte man die Ukraine jetzt plötzlich in die EU aufnehmen...
Auch ich bin der Meinung, dass man unbedingt im Gespräch bleiben muss. Es ist nur fraglich, ob Putin erreichbar bleibt. Ich gewinne immer mehr den Eindruck, als könne es eine Lösung des Konflikts nur ohne Putin geben…