
Seit Beginn des Krieges in der Ukraine sehen sich die rund 181.000 Soldatinnen und Soldaten der Bundeswehr vor teils völlig neuen Herausforderungen. Demnächst soll dauerhaft eine Bundeswehr-Brigade an der Nato-Ostflanke in Litauen stationiert werden, aber auch für die übrige Truppe hat sich der Dienstalltag verändert. Erhöhte Belastungen bedeuten auch neue Anforderungen an die Militärseelsorge.
Gerade war der evangelische Militärbischof Bernhard Felmberg zu Besuch in der Balthasar-Neumann-Kaserne in Veitshöchheim (Lkr. Würzburg). Am Rande der Visitation sprach der 59-Jährige über veränderte Aufgaben, ethische Grundsätze und die Frage, wen die Militärseelsorge mit ihren Angeboten erreicht.
Bernhard Felmberg: Es geht immer um Landes- und Bündnisverteidigung, wie sehr der Angriff Russlands auf die Ukraine unsere Sicherheit gefährdet und wie wir darauf reagieren müssen. Die Begriffe Zeitenwende und Kriegstüchtigkeit verbinden sich mit der Frage: Sind wir fähig, all das, was verlangt wird, auch zu leisten? Es geht aber auch um sehr persönliche Themen.
Felmberg: Nehme ich meine Frau und meine Kinder mit, wenn ich nach Litauen gehe, wo die Bundeswehr in den nächsten Jahren mit 5000 Soldaten stationiert sein wird? Was macht das mit meiner Familie? Oder wie wird es sein, wenn ich lange von der Familie getrennt bin? Das ist für uns in der Seelsorge ein heftiges Thema, ebenso wie die Frage: Was ist, wenn wir angegriffen werden? Das ist noch mal eine andere Dimension als ein Auslandseinsatz in Afghanistan oder Mali, in dem die Bundeswehr mit NATO-Partnern tätig war, um Terrornetzwerke zu zerschlagen und für eine Demokratisierung einzutreten.
Felmberg: Eine Konsequenz aus dem Angriff Russlands auf die Ukraine ist ja, dass die Bundeswehr an die Nato-Ostflanke ins Baltikum geht – und auch dort sind wir für unsere Soldaten da. Wir nehmen aber auch wahr, wie Militärseelsorge auf ukrainischer Seite handelt. Wir sind dort im Kontakt mit den christlichen Kirchen. Dazu kommt, dass wir in Deutschland die Ausbildung ukrainischer Soldaten begleiten. In ihren Gesichtern erkennt man, was sie alles gesehen haben. Das sind Bilder, von denen wir hoffen, dass sie unsere Soldaten nie sehen müssen. Menschen mit posttraumatischen Belastungen zu begleiten, ihnen Therapien zu ermöglichen, ist ein Teil unserer Arbeit in der Militärseelsorge.

Felmberg: In Deutschland haben wir 100 Militärgeistliche, dazu kommen noch vier im Ausland – eine homöopathische Dosis, das sage ich auch dem Minister. In dieser geopolitischen angespannten Situation bräuchten wir eigentlich einen Aufwuchs. Denn überlegen wir mal den Verteidigungs- und Bündnisfall an der Nato-Ostflanke: Wenn der eintritt, begleiten wir Verletzen-Züge nach Deutschland, müssen Todesnachrichten überbringen und uns um die Familien und um Beerdigungen kümmern. Da sind 104 Leute zu wenig. Deshalb sage ich: Wir brauchen eine Art "Geistlichen Operationsplan Deutschland", der ökumenisch ausgerichtet ist und der nicht nur die Militärseelsorge, sondern auch die Notfall-, Krankenhaus- und die Gefängnisseelsorge miteinander in einem Rahmenplan vereinigt und wo jeder weiß, wer was in einer bestimmten Situation zu tun hat.
Felmberg: Ich hatte hier in Veitshöchheim gerade eine Runde mit Soldatinnen und Soldaten, die evangelisch, katholisch oder konfessionslos waren. Alle haben gesagt: Militärseelsorge ist wichtig, weil jemand für uns da ist, mit dem wir vertrauensvoll sprechen können und wo Verschwiegenheit garantiert ist. Es gibt dazu auch eine sozialwissenschaftliche Untersuchung: In der sagen 96 Prozent der Soldatinnen und Soldaten im Auslandseinsatz sowie 91 Prozent an den Standorten in Deutschland, dass sie die Militärseelsorge für wichtig halten. Die Nachfrage ist also da, unabhängig von der religiösen Überzeugung. Seit 2019 gibt es zudem eine jüdische Militärseelsorge, und zurzeit arbeitet das Verteidigungsministerium auch daran, für Muslime eine Art Militärseelsorge aufzubauen. Als christliche Seelsorge unterstützen wir das.
Felmberg: Im Lebenskundlichen Unterricht, der von Militärgeistlichen gestaltet wird, aber religionsneutral ist, werden die ethischen Werte vermittelt, für die unser Land steht. Das ist enorm wichtig. Wir sehen ja gerade, was Krieg aus Menschen macht, wie er auch ethische Grenzen des Kriegsvölkerrechts überschreitet. Das darf uns nicht passieren, deshalb heißt es für die Bundeswehr: Die Werte unserer Verfassung gilt es nicht nur zu verteidigen, sondern jeden Tag zu leben.
Felmberg: Neben dem Unterricht, mit dem wir rund 36.000 Soldaten erreichen, gehen wir zum Beispiel auf Rüstzeiten, das sind Freizeiten mit geistlichem Inhalt. Dort erreichen wir rund 16.000 Soldatinnen und Soldaten. Dazu kommen regelmäßige Gottesdienste an den Standorten oder bei Übungen, wir geben das Monats-Magazin 'Junger Soldat' (JS) heraus und ich poste regelmäßig unter dem Namen "Militaerbischof" auf Instagram.

Felmberg: Natürlich ist die Lehre Jesu eine, die klar darauf setzt, dass Friedfertigkeit Gewaltspiralen unterbricht. Dennoch sind wir Teil dieser Welt. Wir leben noch nicht im Himmelreich und wissen, dass der Mensch Gerechter und Sünder zugleich ist. Wir müssen immer damit rechnen, dass der Mensch auch zu Schlechtem in der Lage ist. Deshalb müssen wir alles dafür tun, dass wir ausufernder Gewalt entgegentreten. Unsere Armee dient allein der Verteidigung. Da versteht es sich von selbst, dass wir unsere Soldaten in ihrem Leben und ihrer dienstlichen Aufgabe, unsere Sicherheit und unsere Freiheit zu verteidigen, begleiten und dafür auch ein Angebot machen, das aus dem christlichen Glauben kommt.
Felmberg: Das ist ein schillernder Begriff, der vom Minister bewusst gewählt wurde, um aufzurütteln. Verteidigungstüchtigkeit sagt das Gleiche. In einer Gesellschaft, die sich gar nicht mehr vorstellen kann, dass Demokratien Ziel von Boshaftigkeiten anderer Staaten werden können, ist Klartext manchmal gut. Ansonsten finde ich Verteidigungstüchtigkeit völlig ausreichend.
Felmberg: Nach dem Überfall auf die Ukraine ergaben sich ganz andere Herausforderungen für die Militärseelsorge. Für die Soldaten stellte sich die Frage: Wie rede ich mit meinem Kind über Krieg? Wie gehe ich damit um, wenn mein Kind in der Schule von anderen Kindern hört: 'Dein Vater ist bei der Bundeswehr, der muss jetzt in die Ukraine und stirbt da"? Auf solche Situationen in den Familien musste die Militärseelsorge reagieren. Wir haben so zum Beispiel einen Leitfaden und Videoclips zum Thema erarbeitet, wie man als Soldat mit den eigenen Kindern über Krieg spricht. Ein weiterer Punkt ist, mit welcher Intensität die Soldatinnen und Soldaten jetzt üben. Für die Soldaten gilt heute: Das, was du übst, kann Realität werden. Das hat mich schon beeindruckt – ebenso wie die Veränderung in meiner Kirche. Sie äußert sich in Friedensfragen heute differenzierter als noch vor einem Jahrzehnt. Denn eines ist klar: Ein entspanntes "Weiter so" können wir uns nicht leisten.