Was ist wichtig in der großen wie der kleinen Politik? Wenn sich die Parteien von rechts bis links auf eines verständigen können, dann ist es die enge Bindung ans Volk. Ohne Bindung kein Vertrauen, ohne Vertrauen keine Stimme. Die Pandemie aber lässt Nähe nur eingeschränkt zu. Raus zu den Leuten, rein in die Betriebe oder Schulen – das geht kaum noch. Die Corona-Krise hat nicht nur Sport und Kultur lahmgelegt, sie hat nicht nur Einzelhandel und Gastronomie getroffen. Das Virus hat auch das politische System entschleunigt. In Zeiten von Abstandsgebot und Kontaktbeschränkung müssen Politikerinnen und Politiker neue Antworten und andere Formate finden, um für die Menschen sichtbar zu bleiben und Strömungen aufzuschnappen. Politik ohne Nähe, geht das überhaupt?
Die Bundestagsabgeordnete Anja Weisgerber (CSU) aus Schwebheim (Lkr. Schweinfurt) sagt: "Das alles kostet Kraft und Zeit. Man hat fast keine Pausen mehr."
Der Landtagsabgeordnete Volkmar Halbleib (SPD) aus Ochsenfurt (Lkr. Würzburg) sagt: "Die Videokonferenz ist nicht das beste Format. Es bleibt was auf der Strecke."
Der Bürgermeister Matthias Bielek (Freie Wähler) aus Dettelbach (Lkr. Kitzingen) sagt: "Spaß macht es nicht. Das geht an die Psyche."
Anja Weisgerber sitzt bis zu zwölf Stunden in der Sprechstunde
Anja Weisgerber sitzt am Freitagnachmittag im Zug von Berlin in ihre Heimat. Hinter ihr liegt eine anstrengende Woche, wieder einmal. Handy und Laptop sind ihre wichtigsten Begleiter. "Viel digitaler" sei ihr Alltag geworden, erzählt sie am Telefon. Auch wenn man sie nicht persönlich sieht, versuche sie sichtbar zu bleiben. Weisgerber, 45, verheiratet, zwei Kinder, betreibt einen YouTube-Kanal (Anja-TV) und einen WhatsApp-Infokanal, man kann online ihren "Brief aus Berlin" abonnieren oder sich für ihre Bürgersprechstunde registrieren, die sie regelmäßig telefonisch anbietet.
Es sei Akkordarbeit. Kaum hat der eine aufgelegt, ist der andere schon in der Leitung. Aber das ist ihr wichtig: zuhören, sich kümmern, den Leuten vermitteln, dass sie auch in der Krise für sie da ist. Neulich habe sie da zwölf Stunden am Stück zu Hause in Schwebheim gesessen, mit 30 Minuten Pause, und über Wirtschaftshilfen und Infektionsschutzgesetz diskutiert. Als gegen 21 Uhr der Letzte aufgelegt hatte, sei sie selbst zum Zeitunglesen zu müde gewesen.
Ihr politischer Alltag in Berlin sieht nicht viel anders aus. Fraktions- oder Ausschusssitzungen finden nur noch im virtuellen Raum statt. Es gibt Tage, die um 8 Uhr mit einer Videokonferenz beginnen und sich schier endlos ziehen. Um 9 Uhr AG Recht, um 9.30 Uhr AG Umwelt, um 11 Uhr AG Bau – wie Kacheln legen sich die Termine in Weisgerber Kalender aneinander, und nicht selten schieben sie sich übereinander. Um 13 Uhr muss sie als Klimabeauftragte schon in der nächsten Runde sein, um 14 Uhr geht es um den Mittelstand, und dann tagt um 15 Uhr auch noch die Fraktion mit den Alpha-Tieren Merkel, Altmaier oder Spahn. Es gibt viele Fragen, einen Teil der Sitzung erlebte sie neulich mit Kopfhörer im Zug.
Früher musste sie für diese Sitzungen den Raum oder das Gebäude wechseln, heute läuft sie extra "mal um den Block", um eine andere Perspektive zu bekommen. Was fehle, sei die Abwechslung, aber auch der persönliche Austausch mit den Kollegen, der kurze Plausch im Aufzug, der Kaffee in der Kantine, die vielen informellen Treffen neben den offiziellen Gremiensitzungen. Die Ganggespräche führt die CSU-Politikerin nun in Chat-Gruppen. Der Rest bleibt auf der Strecke.
Aber Weisgerber, die seit 2013 den Wahlkreis 250 (Schweinfurt) vertritt, sieht auch das Positive. Sie muss nicht mehr Hunderte Kilometer durchs Land hetzen, wenn sie sich mit Landwirten oder Winzern treffen will. Sie muss nur ihren Laptop hochfahren, "und im Zweifel kann man auch schnell mal einen Europaabgeordneten dazuschalten".
Matthias Bielek war immer auf Sendung - und jetzt?
In Dettelbach (Lkr. Kitzingen) hat Matthias Bielek vor einem Jahr die Bürgermeisterwahl gewonnen. Der 39-Jährige ist angetreten mit einem großen Versprechen: maximale Bürgernähe. Aber noch bevor er ins Rathaus einzog, kam der Lockdown. Bis Bielek sein Versprechen erfüllen kann, muss er warten. Es fällt ihm nicht leicht. Er ist ein Mann des Volkes. Er war Fernseh- und Radiomoderator, stand stets auf der Bühne, war immer on air.
Jetzt muss er nicht nur draußen Distanz halten. Der Bürgermeister beruft sogar Videokonferenzen ein, wenn sich nur zwei Abteilungen im Rathaus treffen. Auch mit Kollegen, mit Planern, Projektentwicklern und Ingenieuren bespricht er sich nun auf digitalen Marktplätzen. Bielek sagt: "Wenn man offen für solche Formate ist, ist es effizienter. Man spart sich eine Menge Fahrzeit." Manches will er deshalb beibehalten, auch für die Zeit nach der Pandemie.
Nicht alles passt in den virtuellen Rahmen. „Wenn der älteste Bürger unserer Stadt 100 wird, verzichte ich auf eine Videokonferenz“, sagt Bielek. Den Jubilar besuchte er zu Hause, ging mit ihm in den Garten, mit Abstand und mit Maske. „Ich rufe die Leute vorher an und frage: Wünschen Sie, dass der Bürgermeister kommt? Vor allem die Älteren sagen: Bitte kommen Sie!“ Im Sommer ließ er in einem Stadtteil den Ortssprecher wählen, draußen und im größeren Kreis. Da merkte Bielek, wie das Amt sein kann und was ihm jetzt schon seit Monaten wieder fehlt.
Volkmar Halbleib setzt auf eine digitale Standleitung
Volkmar Halbleib sitzt zu Hause in Ochsenfurt im Homeoffice, während des Telefonats hört man es im Hintergrund leise plingen und sirren. Auch Halbleib, seit 2008 über die SPD-Landesliste im Landtag, hat die persönlichen Kontakte zurückgefahren. Bilder auf seiner Webseite zeigen ihn mit Peter Maffay und bei Trachten- und Feuerwehrvereinen - aus der Zeit vor Corona. Heute läuft die Mehrzahl der Termine so ab wie überall.
Als kulturpolitischer Sprecher seiner Fraktion trifft der 56-Jährige nach wie vor Theaterleute, Musiker, Soloselbstständige – nur eben nicht persönlich, sondern im Netz. Die Qualität der Kontakte sei dabei vielleicht sogar höher, sagt er. „Sonst brauchte es langen Vorlauf, um verschiedene Fachleute zusammenzuholen. Mit den Videokonferenzen klappt das besser.“
Als parlamentarischer Geschäftsführer der Landtags-SPD hat er veranlasst, dass alle Mitarbeiter und Kollegen mit Laptops ausgestattet wurden. So ist eine Art digitale Standleitung entstanden. „Wir können uns jetzt jederzeit zusammenschalten“, erklärt Halbleib. Natürlich sei der Austausch im Netz nicht das Gleiche wie reale Kontakte. Der Bildschirm, die Distanz, all das wirkt wie ein Filter, der Emotionen ausblendet. Das Direkte, das politische Kommunikation ausmacht, bleibt auf der Strecke. Wenn Halbleib früher im Festzelt oder beim Kommersabend auftauchte, bei den „Repräsentations- und Wertschätzungsterminen“, wie er sie nennt, war ein Satz allgegenwärtig: Wenn ich Sie schon mal sehe, Herr Halbleib ... Vieles bekam er so beiläufig mit, was ihm die Leute im Video- oder WhatsApp-Chat nicht erzählen.
Was bleibt nach einem Jahr Politik am Bildschirm? Anja Weisgerber erlebt ihre Gesprächspartner viel fokussierter und disziplinierter, weil nun immer eine Kamera auf diese gerichtet sei und jede Regung einfange. Volkmar Halbleib sieht den Kreis seiner Adressaten durch Formate wie Facebook live deutlich erweitert, wobei viele ihm unbekannt bleiben, weil er sie anders als früher im Festzelt nicht sehen kann. Und Matthias Bielek sagt: „Ich hatte neulich eine Videokonferenz zum Geburtstag eines 91-Jährigen. Er war ganz überrascht, als plötzlich der Bürgermeister aus dem iPad grinste.“
Der Mensch lebt durch sozialen Kontakt. Ohne den direkten Austausch und die Interaktion Mimik , Gestik und auch der gesamten Körpersprache verkümmert und verarmt der Mensch.