20 Jahre lang hat Ernst Engelke in Würzburg als Professor für Soziale Arbeit die Praktikantinnen der beiden Würzburger Frauenhäuser betreut und viele Fälle mit ihnen und den Mitarbeiterinnen unterstützt und aufbereitet. Mit den Leitungen der Frauenhäuser ist er weiterhin in Verbindung und schätzt die Arbeit beider Häuser sehr. Im Interview erklärt der Experte, warum mehr Frauenhausplätze wichtig sind, warum lange nichts passiert sei und warum Bayern insgesamt zu wenig Frauenhausplätze hat.
Ernst Engelke: In der Tat, das freut mich sehr, zumal ich als Professor für Soziale Arbeit lange Zeit mit beiden Frauenhäusern intensiv zusammengearbeitet habe und die Situation kenne. Viele Schutz suchende Frauen müssen abgewiesen werden. Zu lange Zeit ist leider gar nichts passiert, um die Situation zu verbessern. Und das, obwohl die Missstände bezogen auf die Gleichstellung der Frau und beim Schutz vor häuslicher Gewalt immer offenbarer wurden.
Engelke: Die beiden Frauenhäuser in Würzburg wurden in den 1980er Jahren gegründet. 1993 gab es vom Freistaat eine Entscheidung, diese besser zu fördern, wesentlich vorangetrieben von Barbara Stamm, die damals Sozialstaatssekretärin war. Danach gab es einen Stillstand. Frauenförderung war kein Thema. Studien von 2003 bis heute, die von der Bundesregierung in Auftrag gegeben wurden, zeigen eine ganz erhebliche Unterversorgung von Frauen auf, die Gewalt erlebt haben oder von Gewalt bedroht sind. Die neuen Förderrichtlinien von 2019 für Bayern beinhalten nun endlich, dass die Zahl der Plätze um bis zu 35 Prozent erhöht und die Ausstattung verbessert werden soll.
Engelke: Gewalt in der Familie kann überall existieren und macht nicht Halt vor mittleren und höheren Sozial- und Bildungsschichten. Allerdings steht fest, dass Frauenhäuser eher von Frauen aus mittleren und unteren Schichten aufgesucht werden. Frauen aus höheren Schichten meiden Frauenhäuser, auch, wenn sie die Hilfe dringend gebrauchen könnten. Sie suchen Schutz bei Freunden, in einem Hotel oder halten aus.
Engelke: Es gibt mehrere Gründe. Eine Hemmschwelle ist die Scham. Es ist ja eine tiefe Verletzung passiert: Eine liebevolle Beziehung ist in eine von Hass und Gewalt geprägte Beziehung mutiert. Die Frauen sehen darin oft sogar ein persönliches Versagen. Wer möchte solches Scheitern schon öffentlich machen? Allein das ist ein zwingendes Argument dafür, dass der Ort eines Frauenhauses nicht bekannt sein darf. In allen mir bekannten wissenschaftlichen Studien wird genau das und die leichte Erreichbarkeit für Frauenhäuser als unabdingbar verlangt.
Engelke: Stellen Sie sich vor - ein Frauenhaus in Rottendorf oder Ochsenfurt. Das passt einfach nicht. Damit wäre die Schutz- und Sicherheitsfunktion, die ein Frauenhaus für die Frauen und ihre Kinder bieten soll, nicht gegeben. Das Haus wäre im Ort bekannt, und die Männer der Frauen würden vor dem Haus lagern, um ihre Frau oder ihre Kinder abzufangen und zurückzuholen. Wie sollen die Frauen dann ihren Verpflichtungen nachkommen? Wie sollen die Kinder zur Schule oder Kita gehen? Die Erfahrung zeigt: Die Bindung des Paares ist trotz Gewalt oft recht eng, und der Mann will seine Frau und Kinder wieder bei sich haben und verfolgt sie. Davor sind sie zu schützen. Diese Probleme lösen die Frauenhäuser in Würzburg vorbildlich.
Engelke: Es gibt wissenschaftliche Studien und die entsprechenden Konventionen, nach denen festgelegt wird, wie viele Frauenhausplätze pro Einwohner vorzuhalten sind. Nach der Istanbul-Konvention - ein von Deutschland 2018 ratifizierter europäischer Vertrag - ist es ein Frauenhausplatz pro 10 000 Einwohner, gewünscht wird sogar ein Platz pro 7500 Einwohner. Das entspräche der optimalen Förderung. Für den Raum Würzburg - hier tragen die Stadt Würzburg und die Landkreise Würzburg, Main-Spessart und Kitzingen gemeinsam die beiden Frauenhäuser in Würzburg - würde das bedeuten: Bei etwa 505 000 Einwohnern müssten 50 Frauenhaus-Plätze zur Verfügung stehen. Derzeit sind es nur zwölf, mit den neu geplanten Plätzen der AWO dann insgesamt 19.
Engelke: Die bayerische Staatsregierung, die gemeinsam mit den Kommunen für Einrichtung und Finanzierung der Frauenhäuser verantwortlich ist, hat eine eigene Art und Weise, die Versorgungsdichte zu errechnen. Bayern bezieht sich nicht auf die Gesamtzahl der Einwohner, sondern nur auf Frauen zwischen 18 bis 80 Jahren. Danach kommt ein Platz auf 10 327 Einwohnerinnen. Nach dieser Rechnung gäbe es für den Raum Würzburg - wenn man annimmt, dass etwa die Hälfte der Bevölkerung weiblich ist - etwa einen Bedarf von 24 Plätzen anstatt der 50 Plätze nach der verpflichtenden Istanbuler Konvention.
Engelke: Ja, denn dadurch wird das Missverhältnis ganz klar. Das reiche Bayern bildet im Vergleich mit allen anderen Bundesländern das Schlusslicht, was die Bereitstellung und Förderung von Frauenhausplätzen angeht. Das ist eine schlimme Unterversorgung und Pflichtverletzung, und das kritisiere ich. Von daher finde ich es völlig berechtigt, dass aus dem Landratsamt Würzburg weitere Plätze gefordert werden. Aber wie gesagt, an einem geeigneten Ort und nicht als Alleingang, sondern als gemeinsame Aufgabe der vier Träger der bestehenden Frauenhäuser.
Engelke: Wenn die Familie Gewalt erlebt, werden damit auch die Kinder traumatisiert. Sie werden von der Mutter mit ins Frauenhaus genommen. Jungen über 14 Jahre dürfen nicht bei der Mutter im Frauenhaus bleiben, sie werden andernorts untergebracht. Mädchen dürfen bleiben. Das liegt meist an zu wenig Raum in vielen Frauenhäusern, in denen eine Art große Wohngemeinschaft mit Gemeinschaftsbad besteht. In diesen schutzbedürftigen Frauenraum passt ein junger Mann einfach nicht hinein.
Engelke: Selbstverständlich gibt es Konzepte dafür, dies zu vermeiden. Es ist eine Finanzfrage. Statt einer Wohngemeinschaft müsste es getrennte Wohnbereiche für jede Familie geben. In einigen Frauenhäusern wird das praktiziert. Das wird in Zukunft hoffentlich mehr und mehr umgesetzt werden, so dass Familien beieinander bleiben können und genügend Raum für sich haben.
Engelke: Immens wichtig, denn Frauenhäuser sind für die akute Not-Situation konzipiert, und nach zwölf Wochen sollten die Frauen sie wieder verlassen. Oft haben sie keine Wohnung. Eigentlich heißt es: 'Wer schlägt, der geht.' Doch das ist nicht so. Die Schläger bleiben. Deshalb gibt es das so genannte second stage-Projekt mit Wohnungen für wohnungslose Frauen und proaktiver Betreuung. Den Frauen und ihren Kindern wird geholfen, wieder Fuß im Leben zufassen. Wohnungen für die 'second stage-Projekte' könnte ich mir übrigens gut in einer Landgemeinde vorstellen.