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Würzburg
Weltanschauung mit Nebenwirkung: Was Theologen zu spirituellen Lebenskonzepten sagen
Die Weltanschauungsbeauftragten Jürgen Lohmayer aus Würzburg und Philipp Kohler aus Stuttgart haben ein neues Info-Portal mit aufgebaut. Ihre "Beipackzettel" erklären - und warnen.
Die Weltanschauungsbeauftragten Philipp Kohler von der evangelische Landeskirche Württemberg und  Dr. Jürgen Lohmayer von der Diözese Würzburg sind Autoren der 'Spirituellen Apotheke'.
Foto: Christine Jeske | Die Weltanschauungsbeauftragten Philipp Kohler von der evangelische Landeskirche Württemberg und  Dr. Jürgen Lohmayer von der Diözese Würzburg sind Autoren der "Spirituellen Apotheke".
Christine Jeske
 |  aktualisiert: 10.05.2023 10:02 Uhr

Beipackzettel von Medikamenten sind meist seitenlang, kleingedruckt und nicht immer einfach zu lesen. Die Beipackzettel der "Spirituellen Apotheke" dagegen sind handliche Karten: Die Texte darauf wollen kompakt und leicht verständlich über spirituelle Lebenskonzepte und religiös-weltanschauliche Angeboten informieren. Denn diese seien nicht immer frei von Risiken und Nebenwirkungen, sagen die Theologen Dr. Jürgen Lohmayer und Philipp Kohler.

Die beiden Weltanschauungsbeauftragten der Diözese Würzburg und der evangelischen Landeskirche in Württemberg gehören zum Autorenteam der "Spirituellen Apotheke", einem Info-Portal der Weltanschauungsbeauftragten der evangelischen Kirchen und katholischen Bistümer in Deutschland. "Der Inhalt der Karten", sagt Philipp Kohler, "gehört zum Standard-Repertoire eines Weltanschauungsbeauftragten". 

Die Autoren bleiben bewusst im Stil sachlich, selbst wenn es um krude Verschwörungstheorien wie QAnon geht. Auch über die Gemeinschaft "Go & Change" in Lülsfeld bei Gerolzhofen (Lkr. Schweinfurt), die 2020 in die Schlagzeilen geriet, gibt es einen Überblick. Auf der Karte dazu heißt es: "Go&Change begreift sich als Teil(-Projekt) eines umfassenden sozialen Wandels." Mögliche Nebenwirkungen seien "autoritäres Führungsverhalten und ein zunehmender Gruppendruck".

Was ist das Konzept der "Spirituellen Apotheke"? Wann können Weltanschauungen gefährlich werden und was hat es mit "Esoterik" auf sich? Philipp Kohler und Jürgen Lohmayer geben Antworten.

Worum geht es in den Beipackzetteln der "Spirituellen Apotheke"?

Aktuell können im Internet 40 Karten zu sechs Kategorien aufgerufen werden: Gesundheit, Sicherheit, Spiritualität, Ewigkeit, Gemeinschaft, Erfüllung. In der Kategorie "Ewigkeit" gibt es Informationen über Reinkarnation, also Wiedergeburt, etwa in der Anthroposophie. Im Bereich "Sicherheit" geht es unter anderem um Populismus (Reichsbürger) und Verschwörungen (Laienprediger Ivo Sasek). Bei "Erfüllung" werden Selbstfürsorge, Sinnsuche und Selbstoptimierung kurz erläutert. Die Auswahl ist laut Jürgen Lohmayer nur ein Auftakt. Ergänzungen seien möglich.

Was bietet die Spirituelle Apotheke?

"In der Beratung stellen wir häufig fest, dass Menschen auf der Suche nach Heil und Heilung oder einem erfüllten Leben von ähnlichen Grundmotiven und Bedürfnissen bewegt werden", sagt Philipp Kohler. Diese Bedürfnisse wolle man aufgreifen - "um mit den Menschen ins Gespräch zu kommen", sagt Lohmayer. Deshalb gebe es auch die kurzen, allgemeinverständlichen Texte zu den Fragen: Was wird geboten? Welche Wirkungen werden erwartet? Welche Nebenwirkungen sind möglich?

"Der Inhalt der Karten gehört zum Standard-Repertoire eines Weltanschauungsbeauftragten."
Philipp Kohler von der evangelischen Landeskirche Württemberg 

Hat sich das Angebot an Lebenskonzepten gewandelt?

In den 1970er Jahren zogen die sogenannten Jugendsekten mit ihren religiösen Lehrern und Gurus viele in ihren Bann, sagt Lohmayer. "Die 1980/90er Jahre waren dann eher von Psychogruppen wie Scientology geprägt." Seit den 2000er Jahren sei auch das Esoterik-Angebot immer vielfältiger geworden. Selbsternannte Gurus gebe es immer noch. Beispielsweise in der neohinduistisch-orthodox geprägten Gruppe Bhakti Marga, gegründet von Swami Vishwananda. "Menschen, die dort den Ausstieg geschafft haben, berichten von sexueller Nötigung, Demütigungen und Manipulationen."

Warum fehlt der Begriff "Sekte" in den Beipackzetteln?

Den Begriff "Sekte" verwenden Weltanschauungsbeauftragte nicht mehr gerne, sagt Lohmayer: "Der Begriff der Weltanschauung ist umfassender, er fokussiert nicht von vornherein in eine Richtung, auch nicht in eine negative." Der Begriff Sekte sei dagegen eindeutig negativ besetzt. Der Theologe  weiß jedoch: "Für die Öffentlichkeit klingt der Begriff 'Sekte' sehr aufregend. Mit ihm verbinden Menschen etwas Gefährliches."

Was versteht man unter Esoterik?

Auf der Karte dazu steht: "Die esoterische Weltanschauung will eine ganzheitliche und erfahrungsbetonte Spiritualität bieten. Das Göttliche ist im Menschen angelegt und durch Praktiken
und Studien für jeden erreichbar." Zum Esoterik-Angebot gehören energetische Therapiekonzepte, Jenseitskontakte, Kristalle, Wahrsagen, Tarotkarten, vegane Tieressenzen und vieles mehr. 

Was sind mögliche Nebenwirkungen der Esoterik? 

Dazu heißt es auf dem Beipackzettel: "Nur Erleuchtete oder auserwählte Menschen könnten die Gesamtheit des Wissens realisieren. Kritischen Nachfragen wird mit dem Hinweis begegnet, man müsse es erfahren, um es verstehen zu können. Somit wird jegliche, auf rationalen Argumenten beruhende Auseinandersetzung schon im Vorfeld verhindert. Heilsversprechen, die Menschen dazu führen, eine nötige ärztliche Behandlung abzubrechen, könnten schwerwiegende Folgen haben. Auch die teilweise hohen finanziellen Folgen müssen bedacht werden."

Was versteht man in der Esoterik unter "erleuchteten Menschen"?

Zu "Erleuchteten" sagen Lohmayer und Kohler: Jemand gibt vor über ein spezielles geheimes Wissen zu verfügen, das nur ihm zugänglich sei und ihm durch ein höheres Wesen, etwa durch einen Engel, vermittelt werde. Diese Menschen würden sich selbst als "besonders" ansehen, sagt Lohmayer und gibt ein Beispiel: Jörg Loskant. Er nennt sich "Natara" und behauptet, dass er Gespräche mit dem Erzengel Michael führt und Botschaften anderer Wesen durch ihn hindurchströmen ("Channeling"). Mögliche Nebenwirkungen für Menschen, die ihr alltägliches Leben von den angeblichen Botschaften bestimmen lassen, sind Realitätsverlust und Abhängigkeit.

"Letztlich gibt es in der Esoterik auf alles eine Antwort. Da wird einem das Leben erklärt."
Weltanschauungsbeauftragter Jürgen Lohmayer

Wann wird Esoterik zur Gefahr?

Lohmayer sieht alternative Heilmethoden bei lebensbedrohenden Erkrankungen wie Krebs als mögliche Gefahr. Wenn es heiße: "Wenn Du auf mich vertraust, dann musst du die schulmedizinische Therapie abbrechen." Letztlich gebe es in der Esoterik auf alles eine Antwort.  "Da wird einem das ganze Leben erklärt." Für manche Menschen bedeute das zunächst eine Sicherheit – aber eine illusionäre. Niemand könne alles erklären. "Die Warum-Frage offenzuhalten, zur eigenen Unsicherheit und zum eigenen Unwissen zu stehen, das ist eine riesige Herausforderung. Auf die sind wir in unserer abendländischen Denktradition wenig bis gar nicht vorbereitet", sagt Lohmayer.

Hat die Esoterik positive Aspekte - und welche?

Esoterische Angebote könnten anfangs entlastend wirken: "Wenn sich Menschen jahrelang über ihre Beziehung Gedanken machen und dann jemand sagt, so und so ist es, kann das im Moment Orientierung geben", sagt Philipp Kohler. Er verweist aber auf die Verantwortungsumkehr: "Falls jemand erkrankt, wird der Heiler die Verantwortung von sich weisen. Der Fehler liege immer bei einem selbst."

Was sollen Angehörige tun, wenn ein Familienmitglied den Kontakt abbricht?

"Für Angehörige ist das schwer begreif- und aushaltbar", sagt Lohmayer. Manchmal sei die Frage hilfreich sein, welcher lebensgeschichtliche Beweggrund eventuell dahinter steht, auf welches Bedürfnis das neue soziale Umfeld aktuell anscheinend die passende Antwort bereitstellt. Wenn das die Angehörigen ein Stück weit nachvollziehen können, dann könne dies eine gewisse Art von Entlastung sein. "Ein Beratungsgespräch kann dazu einen Beitrag leisten",  sagt der Würzburger Weltanschauungsbeauftragte. 

"Spirituelle Apotheke"

Der Internetauftritt ist ein ökumenisches Angebot der Weltanschauungsbeauftragten der evangelischen Kirchen und katholischen Bistümer. Ziel ist, die religiös-weltanschaulichen Möglich­keiten differenziert zu betrachten, Orientierung zu geben und mit den Menschen ins Gespräch zu kommen. Derzeit können 40 Informationskarten beziehungsweise Beipackzettel abgerufen werden: www.spirituelle-apotheke.de
Beratungen mit dem Würzburger Weltanschauungsbeauftragen Jürgen Lohmayer können vereinbart werden beim Referat Interreligiöser Dialog und Weltanschauungsfragen, Ottostraße 97070 Würzburg, Tel.: (0931) 386 63 731. Kontakt per E-Mail: 
weltanschauung@bistum-wuerzburg.de
Literaturtipps: "Rechte Esoterik. Wenn sich alternatives Denken und Extremismus gefährlich vermischen" von Matthias Pöhlmann (Herder Verlag, 22 Euro).  
Zu Verschwörungsideologien (Definitionen, Hintergründe, Praxistipps zum Umgang) hat das Zentrum Oekumene der Evangelischen Kirchen in Hessen und Nassau (EKHN) eine Broschüre herausgegeben. Online zum Herunterladen unter www.zentrum-oekumene.de/de/themen-materialien/weltanschauungen/ Gedruckte Broschüren kann man bestellen unter Tel. (069) 976 518-11 oder per E-Mail: info@zentrum-oekumene.de. Mehr und weiter Infos beim Zentrum Gesellschaftliche Verantwortung in Mainz: ww.zgv.info
Quelle: cj
 
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