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Würzburg/New York
Warum Terrorismus-Experte Neumann zu Verhandlungen mit den Taliban rät
20 Jahre 9/11: Im Interview erklärt der Würzburger Politikwissenschaftler, wie sich Dschihadisten seit 2001 verändert haben und warum Osama bin Laden gescheitert ist.
Am 11. September 2001 flogen zwei entführte Passagiermaschinen in die Zwillingstürme in New York.
Foto: Gulnara Samoilova/AP, dpa | Am 11. September 2001 flogen zwei entführte Passagiermaschinen in die Zwillingstürme in New York.
Benjamin Stahl
 |  aktualisiert: 10.05.2023 10:10 Uhr

Seit den Anschlägen vor 20 Jahren bestimmt der islamistische Terror regelmäßig die Schlagzeilen. Im Interview erklärt der Würzburger Terrorismus-Experte Peter Neumann, wie sich die Strategie der Attentäter im Laufe der Zeit verändert hat und wie groß die Gefahr nach der Rückkehr der Taliban in Afghanistan heute ist.

Frage: Fast jeder weiß, wo er am 11. September 2001 gewesen ist. Wie ist es mit Ihnen?

Peter Neumann: Ich war in London und habe an meiner Promotion gearbeitet. Nebenbei lief das Radio, da habe ich gehört, dass ein Sportflugzeug ins World Trade Center gestürzt sei. Als die Meldung über die zweite Maschine lief, war mir klar, dass das kein Unfall war. Ich habe dann meine Arbeit für den Tag beendet und Fernsehen geschaut.

Bis heute ranken sich viele Verschwörungstheorien um 9/11. Weil der Anschlag so unvorstellbar war?

Neumann: Sicher. Die 1990er Jahre waren weltpolitisch gesehen eine glückliche Phase: Der Kalte Krieg war zu Ende, viele glaubten, der westliche liberale Kapitalismus ist das einzige funktionierende System in der Welt und wird sich überall ausbreiten. Man glaubte, man hat keine Feinde mehr. Die Tatsache, dass es einen entschlossenen, ideologischen Gegner gibt, war unvorstellbar. Erst recht, dass so eine Gruppe das amerikanische Festland angreift.

"9/11 war einzigartig."
Peter Neumann über die Symbolkraft der Anschläge vom 11. September 2001
Dabei gab es vorher schon islamistische Anschläge.

Neumann: Ja, auf Botschaften in Ostafrika und auf Amerikaner im Ausland. Aber ein Anschlag wie 9/11 – damit hat niemand gerechnet. Die 9/11-Kommission des US-Kongresses kam richtigerweise zu dem Schluss: Der ultimative Fehler im Vorfeld der Anschläge lag in einem Versagen der Vorstellungskraft.

Auch wenn man sich nach dem 11. September der Gefahr bewusst sein musste, folgten weitere große Anschläge. Etwa 2004 in Madrid, 2005 in London oder dann 2015 die Anschläge in Paris. War irgendetwas davon mit 9/11 vergleichbar?

Neumann: Überhaupt nicht, 9/11 war einzigartig. Die Anschlagsserie in Paris zum Beispiel war auch komplex, aber eine andere Art von Anschlag: Da sollte eine schon verwundete Gesellschaft von innen zerstört werden. Die Symbolik des 11. September konnte aber nicht wiederholt werden. Amerika führt das westliche System an, New York ist die Quintessenz von Amerika und das World Trade Center stand wie nichts anderes für das westliche System. Mehr geht nicht: ein Anschlag auf die liberale Moderne. Daran ist bin Laden auch gescheitert: an seinem eigenen Erfolg.

Peter Neumann ist Teil des 'Zukunftsteams' von Kanzlerkandidat Armin Laschet (CDU).
Foto: Christoph Soeder, dpa | Peter Neumann ist Teil des "Zukunftsteams" von Kanzlerkandidat Armin Laschet (CDU).
2015 war auch das Jahr der Flüchtlingskrise, 2016 kam es in Würzburg, Ansbach und Berlin zu Terroranschlägen – alle wurden von Flüchtlingen begangenen. Welche Rolle spielte die Flüchtlingskrise für die Terrorgefahr in Deutschland?

Neumann: Damals sind einige Leute, darunter hochrangige Vertreter von Sicherheitsbehörden, durch die TV-Studios gezogen und warnten vor Tausenden Terroristen, die der IS ins Land schleuse. Das hat sich nicht bewahrheitet. Einerseits hatten wir da Glück, andererseits haben die Behörden sehr hart gearbeitet, um Anschläge zu verhindern. Es gab nur einen größeren Anschlag in Deutschland: den auf den Breitscheidplatz in Berlin. Und jetzt der Messerangriff in Würzburg.

Glauben Sie, der Messerangriff hatte einen islamistischen Hintergrund?

Neumann: Die Tat liegt wohl in der Grauzone zwischen Amoklauf und Terrorismus. Wir haben nach wie vor keinen guten Begriff dafür. Das ist ein Muster, das wir immer häufiger sehen: ein gewaltbereiter Einzeltäter mit langer Geschichte psychischer Störungen, der irgendwelche ideologischen Versatzstücke aufschnappt und glaubt, eine Mission gefunden zu haben. Das ist ein Phänomen, über das man viel intensiver diskutieren muss, weil es immer wieder vorkommt.

Wie unterscheiden sich Terroristen wie Mohammed Atta, einer der Drahtzieher des 11. September, von Attentätern wie Riaz A., der das Axt-Attentat verübt hat?

Neumann: Die Generation "Islamischer Staat" ist psychologisch und demografisch ganz anders als die damaligen El-Kaida-Leute wie Atta. Das war ein gebildeter Mann, der aus Ägypten nach Deutschland zum Studieren kam – und er hat Religion sehr ernst genommen. Die Hamburger Zelle hat sich abends getroffen, um Tee zu trinken und über Religion zu diskutieren. Sie haben auch alle religiösen Regeln eingehalten, an die salafistisch-dschihadistische Ideologie geglaubt und danach gelebt. Und sie haben mit der Frage gerungen, ob sie Attentäter werden sollten. Das war nicht impulsartig aus Hass auf eine Gesellschaft, sondern ein jahrelanger Prozess. Bei Riaz A. beispielsweise war das ganz anders.

"Bin Laden war ein tiefgläubiger Asket (...), al-Zarqawi war ein Drogendealer."
Peter Neumann über die Anführer von El Kaida und "Islamischem Staat"
Zumindest so viel man weiß. Die Ermittlungen zum Axt-Anschlag laufen noch immer.

Neumann: Was aber klar ist: Er war jung, hat sich wohl übers Internet radikalisiert und wie religiös er war, ist fraglich. Als unbegleiteter minderjähriger Flüchtling war er in einer schwierigen persönlichen Situation und hat etwas gesucht, das ihm Orientierung geboten hat. Die Unterschiede zwischen diesen Tätertypen spiegeln sich übrigens auch prototypisch in den Anführern von IS und El Kaida.

Inwiefern?

Neumann: Osama bin Laden war ein tiefgläubiger Asket aus gutem Hause, dem alle Türen offenstanden. Er entschied sich aber aus Überzeugung für diesen Weg. IS-Gründer al-Zarqawi war ein Drogendealer, der in Jordanien im Gefängnis saß und gerade erst begann, sich für Religion zu interessieren.

Zurück nach Afghanistan und in die Gegenwart: Ist die Anschlagsgefahr nach den jüngsten Entwicklungen dort wieder höher?

Neumann: Nicht unmittelbar und nicht durch die Lage in Afghanistan per se. Es wird noch dauern bis das Land – wenn überhaupt – wieder zum Rückzugsraum für internationale Terroristen wird. Ich glaube aber, dass der Sieg der Taliban einen motivierenden Effekt auf die dschihadistische Szene hat. Es gibt ein positives Grundrauschen, das viele islamistische Organisationen schon propagandistisch ausschlachten: "Wenn die Taliban Amerika bezwingen können, kannst du das auch!" Die aktuelle Gefahr ist, dass das bei psychisch labilen Einzeltätern verfängt.

"Die Idee, Afghanistan in eine Demokratie zu verwandeln und dort Menschenrechte zu etablieren, war eine europäische."
Peter Neumann über die Ziele des Westens in dem Land
War der Afghanistan-Einsatz vor diesem Hintergrund also umsonst?

Neumann: Die Terrorismusbekämpfung war ja im Frühjahr 2002 mit der "Operation Anaconda" abgeschlossen. Die Amerikaner wollten die Trainingscamps von Osama bin Laden zerstören. Als das geschafft war und die Taliban vertrieben waren, wollten die USA wieder raus aus Afghanistan – weil der Irak nun in den Fokus rückte. Abgehalten haben sie die Europäer, dass muss man einmal deutlich sagen: Die Idee, Afghanistan in eine Demokratie zu verwandeln und dort Menschenrechte zu etablieren, war eine europäische – auch proklamiert von der damaligen rot-grünen Bundesregierung. Das Problem war nur, dass die Europäer nicht in der Lage und bereit waren, die dafür notwendigen Mittel zur Verfügung zu stellen. Unterm Strich war nicht alles umsonst: Junge Frauen zum Beispiel haben profitiert, konnten Bürgermeisterin oder Richterin werden. Aber man hätte viel mehr erreichen müssen.

Der Einsatz dauerte 20 Jahre. Bis wann gab es die Chance, Afghanistan zu stabilisieren?

Neumann: Ich glaube bis heute fest daran: Hätte man 2002 oder 2003 massiv mit Entwicklungshilfe gearbeitet und mehr Soldaten geschickt, um das Land zu sichern, hätte es eine Chance gegeben. Damals war auch noch unglaublich viel guter Wille bei den Afghanen vorhanden. Spätestens 2006, als die neue Regierung die Erwartungen der Afghanen nicht erfüllt hatte und die ersten Taliban zurückgekommen sind, war es vorbei.

Die Taliban geben sich derzeit zahm. Wie interpretieren Sie das?

Neumann: Die politische Führung der Taliban will von anderen Staaten anerkannt werden und aus den Fehlern von vor 20 Jahren lernen. Sie wollen es sich nicht gleich mit allen verscherzen. Die Frage ist aber: Können sich diese pragmatischen Taliban, die in Qatar sitzen, langfristig durchsetzen? Die Taliban sind keine homogene Einheit, da gibt es Strömungen, die dem entgegenstehen: In einigen Provinzen führen Taliban-Vertreter schon wieder Regeln wie in den 90er Jahren ein. Niemand kann sagen, wer in einem halben Jahr bei den Taliban das Sagen hat und wie viel Einfluss wir auf sie ausüben können. Und man darf nicht vergessen: Selbst die gemäßigten Taliban sind Taliban. Das sind vielleicht Leute, die Frauen nicht steinigen wollen, aber sie sehen sicher keine Rolle für Frauen im öffentlichen Leben.

"Wir haben schließlich Interessen in Afghanistan."
Peter Neumann über die Rolle Deutschlands am Hindukusch
Sie sind im "Zukunftsteam" von Armin Laschet. Würden Sie einem künftigen Kanzler raten, mit den Taliban zu verhandeln?

Neumann: Natürlich, das findet ja auch schon statt. In Qatar verhandeln Vertreter westlicher Staaten mit den Taliban. Das hängt damit zusammen, dass wir noch Leute in dem Land haben, die wir rausholen wollen. Ich bin auch generell dafür, mit ihnen zu sprechen. Wir haben schließlich Interessen in Afghanistan. Ich bin aber dagegen, dass man den Taliban jetzt ohne Notwendigkeit Zugeständnisse macht. Sie müssen erst mal beweisen, dass es ihnen ernst ist, international orientierte terroristische Gruppen zu bekämpfen.

Sie sprachen von deutschen Interessen in Afghanistan. Welche sind das?

Neumann: Erstens, wie gesagt, dass Terroristen dort nicht wieder einen Rückzugsraum haben. Zweitens müssen wir eine Flüchtlingskrise vermeiden. Deshalb will Armin Laschet im Falle eines Wahlsieges innerhalb von 30 Tagen eine internationale Konferenz einberufen, wo alle relevanten Staaten mit am Tisch sitzen. Ziel ist ein Programm, das vor allem den Nachbarstaaten Usbekistan, Tadschikistan und Pakistan – wo die meisten Flüchtlinge ankommen – massiv hilft, die Kapazität aufzubauen, um die Leute erst mal dort zu versorgen. Wenn die Leute dort in Sicherheit sind, werden viele nicht weiterziehen wollen. Und wer weiterziehen will, kann dort schon einer Sicherheitsüberprüfung unterzogen werden. In einem zweiten Schritt müssen wir dann über Flüchtlingskontingente verhandeln.

Am Dienstag, 14. September, ist Peter Neumann in Würzburg zu Gast. Bei einer CSU-Wahlkampfveranstaltung wird Neumann mit dem Bundestagsabgeordneten Paul Lehrieder und Oberbürgermeister Christian Schuchardt über das Thema "Innere Sicherheit in Deutschland" sprechen. Die Veranstaltung beginnt um 19.30 Uhr in den Weinstuben Bürgerspital. Anmeldung unter wuerzburg@csu-bayern.de oder Tel. (0931) 53340.

 
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