Die Terrororganisation Islamischer Staat (IS) ist nicht nur in Syrien und Irak ein Problem. Auch der Westen ist im Fadenkreuz der Dschihadisten. Der Würzburger Terrorismusexperte Peter Neumannerklärt, wie er die IS-Kämpfer in sozialen Netzwerken wie Facebook jagt und wie ein islamistischer Anschlag in Deutschland aussehen könnte.
Peter Neumann: Auf jeden Fall. Zum einen durch die von Ihnen erwähnten sogenannten Rückkehrer, die durchaus in der Lage wären, einen relativ komplizierten Anschlag durchzuführen. Und zweitens durch Unterstützer des IS im Westen, die sich überlegt haben in den Dschihad zu ziehen, aber geblieben sind und sich jetzt denken: „Ich kann der Organisation durch einen Anschlag auch hier helfen.“ Und davon gibt es wirklich sehr viele.
Neumann: Der IS hat demonstriert, dass man auch ohne komplizierte Anschläge großes Entsetzen auslösen kann: Sie können sich im Prinzip jemanden in der Schönbornstraße in Würzburg greifen und ihn dort enthaupten. Das ist genauso schockierend und kreiert genauso viel Terror wie ein großer Anschlag. Und ich glaube, das ist genau die Art von Anschlag, den wir in naher Zukunft in deutschen oder englischen Straßen sehen werden.
Neumann: Genau. Das mit der Bombe ist allerdings nach wie vor nicht vom Tisch. Es erfordert nur sehr viel Planung. Und große Anschläge haben viele Fehlerquellen, wohingegen bei der Enthauptung in der Fußgängerzone im Prinzip nichts schiefgehen kann: Wenn man seinen Plan für sich behält, haben die Sicherheitsbehörden auch keine realistische Chance, ihn zu vereiteln.
Neumann: Vor zwei Jahren hat einer meiner Mitarbeiter bemerkt, dass einige dieser Kämpfer aus dem Westen kommen und obwohl sie in Syrien oder dem Irak sind, ihre sozialen Netzwerke aufrechterhalten. Das heißt, sie sind nach wie vor auf Facebook, Instagram oder Twitter unterwegs. Wir haben festgestellt, dass das eine interessante Informationsquelle ist, weil man ihre Aktivitäten in den sozialen Netzwerken verfolgen kann. Wir haben angefangen, drei oder vier zu beobachten und über deren Freundeslisten weitere Kämpfer gefunden. Wer Auslandskämpfer ist, hat auch Auslandskämpfer als Freunde. Je mehr man gefunden hat, desto einfacher wird das.
Neumann: Ein großes Problem ist zum Beispiel, dass Facebook die Accounts von Kämpfern schließt . . .
Neumann: Ja, das sind eben Dschihadisten. Aber für uns ist das ärgerlich. Facebook wird zwar immer wieder kritisiert, dass man zu wenig gegen den Missbrauch als Propagandaplattform unternehme. Aber für uns versiegt mit jedem geschlossenen Account auch eine Informationsquelle.
Neumann: Schon, aber es geht auch nicht mehr so sehr um Rekrutierung. Es ist nicht so, dass sich Leute im Internet umsehen und dann plötzlich nach Syrien gehen. Die meisten, ich schätze 80 Prozent, gehen, weil zum Beispiel Freunde von ihnen schon dort sind, die Leute aus ihrem Umfeld nachholen. Ohne Kontakte kommt man ja gar nicht zum IS: Wenn jemand in einer Grenzstadt auftaucht, befürchtet IS erst mal, dass das ein Spion sein könnte. Man braucht im Prinzip eine Art Referenz, um beitreten zu können.
Neumann: Mittlerweile haben wir zwischen 500 und 600 Profile von westlichen Dschihadisten, die momentan in Syrien und im Irak kämpfen, in einer Datenbank gespeichert. Das hat uns in die Lage versetzt nicht nur viele Informationen zu gewinnen, sondern auch mit ihnen zu sprechen: Wir können über Facebook oder Twitter Kontakt aufnehmen und das hat in einigen Dutzend Fällen auch schon zu richtigen Dialogen geführt. Wir sind momentan die Einzigen, die sich mit diesen Kämpfern an der Frontlinie unterhalten.
Neumann: Nein, da waren wir nicht beteiligt. Ich kann Ihnen aber sagen, dass wir uns ziemlich sicher sind, dass die Person, die von den englischen Zeitungen identifiziert und als „Dschihadi John“ beschrieben wurde, nicht der Täter ist.
Neumann: Der Mörder ist Linkshänder, „Dschihadi John“ Rechtshänder. Außerdem gibt es mehrere Merkmale – unter anderem die Fingernägel des Mörders – die deutlich zeigen, dass es ganz offensichtlich nicht die Hand von „Dschihadi John“ ist. Wir haben uns natürlich auch die rund 100 Briten in unserer Datenbank angeschaut. Einen Treffer hatten wir dort nicht. Das FBI ist da aber offensichtlich inzwischen etwas weiter.
Neumann: Viele Geheimdienste machen nicht die Arbeit, die wir machen. Die Auswertung sozialer Medien wird erst seit kurzem ernst genommen. Noch vor zwei Jahren wurde etwa Facebook als Informationsquelle als Spielerei belächelt. Das hat sich mittlerweile geändert. Viele Dienste wollen heute unsere Methodik lernen.
Neumann: Sie sehen in uns eine Möglichkeit, ihre Botschaft der westlichen Öffentlichkeit nahezubringen. Sie glauben, wir fungieren als eine Art Sprachrohr für ihre Ideologie. Das Schöne an den sozialen Medien ist aber die Möglichkeit, mit Leuten über lange Zeit in Kontakt zu bleiben. Habe ich nur kurz mit jemandem Kontakt, kann ich alles mögliche über mich behaupten und ein Bild aufrechterhalten. Über längere Zeiträume geht das nicht, die Beziehung zum Gesprächspartner entwickelt sich. Und genau das ist oft passiert: Viele, die mit uns in Kontakt getreten sind, weil sie eine Botschaft verbreiten wollten, sind heute Leute, die uns vertrauen, mit denen wir täglich sprechen. So lernen wir viel über den IS.
Neumann: Wir betreiben auch Feldforschung. Im Mai waren wir an der türkisch-syrischen Grenze und haben uns dort direkt mit Leuten in dem Gebiet unterhalten, von wo aus Auslandskämpfer nach Syrien gehen. Mit Schmugglern, Transportern, aber auch mit Kämpfern selbst. Die sind dort sehr einfach zu finden, jeder weiß, wo sie übernachten oder in welchen Moscheen sie beten. Es ist wichtig, dass man sich auch persönlich mit Leuten vor Ort unterhält. Denn egal wie sehr man sich bemüht, das Internet verzerrt die Darstellung immer noch.
Neumann: Es gibt keinen Prototypen. Es gibt gebildete und weniger gebildete, Menschen mit und ohne kriminellem Hintergrund, jüngere und ältere. Aber es ist so, dass es zwei Wellen gab: Die erste 2012/13 mit Leuten, die nach Syrien gegangen sind und humanitär motiviert waren. Die wollten dorthin, weil sie das Gefühl hatten, dass Machthaber Assad die Sunniten foltert und tötet. Die wollten sie retten. Das war muslimisch motiviert, aber nicht dschihadistisch. Die zweite Welle läuft seit 2013/14. Das sind jetzt ideologisch motivierte Kämpfer, da hört man viel vom Kalifat und vom Islamischen Staat. Das waren schon Dschihadisten, bevor sie nach Syrien gegangen sind. Und das sind die Gefährlicheren.
Neumann: Wer jetzt als Dschihadist nach Syrien geht, der kann nicht behaupten, nicht zu wissen, um was es geht. 2012 war das noch nicht so offensichtlich und der Konflikt hat sich verschärft. Zudem haben sich 2012 viele Muslime Gruppen angeschlossen, die sich erst später mit IS vereinigt haben. Der Einzelne ist also nicht IS beigetreten und nicht alle sind verrückt ideologisch. Einige sind inzwischen frustriert und haben uns sogar gesagt, dass sie zurück wollen.
Neumann: Wenn jemand zurückkommt, muss man eine Risikoeinschätzung vornehmen. Ist jemand so gefährlich, dass man ihn einsperren muss? Hat jemand psychologische Probleme wegen dem, was er im Konflikt erlebt hat, und muss eventuell in Behandlung? Oder ist der Rückkehrer tatsächlich total desillusioniert und will aussteigen? Dann muss man über Exit-Programme und Rehabilitation nachdenken. Am wichtigsten ist aber Prävention.
Neumann: Erstens muss man die Leute an Reisen nach Syrien hindern, sofern ein Verdacht besteht. Da bin ich dafür, dass Pässe abgenommen werden. Denn viele radikalisieren sich in Syrien weiter und der Konflikt dort brutalisiert die Menschen auch. Es gibt ja die Theorie, dass man alle gehen lassen soll und die bringen sich dann dort gegenseitig um – so funktioniert das aber nicht. Zweitens muss in den muslimischen Gemeinden über Syrien und IS geredet werden. Häufig beobachten wir bei den Auslandskämpfern, dass diese Diskussion nie stattgefunden hat. Ihnen muss klargemacht werden, dass man die Situation in Syrien verschlimmert, wenn man dort kämpft. Zugegeben: Das wird viele, die rein ideologisch motiviert sind, nicht abhalten.
Neumann: Absolut gesehen aus Frankreich. Da reden wir laut neuesten Zahlen von 1000. Danach folgen Briten und Deutsche. Wenn man das aber auf die Einwohnerzahl umrechnet, dann sind die am stärksten betroffenen Staaten Belgien, die Niederlande und Skandinavien. Aus Belgien sind zwischen 300 und 400 Leute gegangen, aus Deutschland rund 440 – also kaum mehr, obwohl Deutschland achtmal so groß ist.
Neumann: Ja, aber vor allem wegen El Kaida, das in Konkurrenz zum IS steht. El Kaida muss beweisen, dass es überhaupt noch relevant ist und das geht am besten über einen großen Anschlag im Westen.
Neumann: In den letzten zwölf Monaten waren es Feinde. Da gab es tödliche Konfrontationen. Zuletzt scheint es, dass es Bemühungen gibt, sich gegen den gemeinsamen Feind zu vereinen. Ich glaube aber nicht, dass es zu einer Vereinigung kommen wird, da die jeweiligen Spitzen sehr zerstritten sind. Und es kann nur einen Anführer geben. Einer von beiden – Golani von Dschabhat al-Nusra oder al-Baghdadi von IS – müsste also zurücktreten. Letzterer hat sich ja schon zum Kalifen ausgerufen. Und auch Golani hat ein gesundes Ego, das wird also nicht passieren. Ich kann mir vorstellen, dass pragmatisch auf unterer Ebene zusammengearbeitet wird, dass man eine Art Waffenstillstand mit partieller Kooperation vereinbart.
Neumann: Ich bin für die Intervention, auch wenn es das Risiko von terroristischen Anschlägen erhöht. Es ist einfach nicht vorstellbar, dass der Westen nichts macht. Ich befürchte aber, dass man durch die halbherzige Intervention, die keine zu Ende gedachte Strategie hat, den IS nicht wirklich schwächt, sondern die Feinde des Westens vereint. Das sieht man jetzt schon in Syrien, wo nicht nur El Kaida und IS gegen den Westen kämpfen, sondern auch andere Oppositionsgruppen. Das ist neu. Gleichzeitig ist der Westen nicht in der Lage, IS zu zerstören, weil man zu wenig Informationen hat. Es gab zuletzt drei Missionen der Briten über dem Irak, bei denen nicht eine Bombe abgeworfen wurde. Man hatte einfach keine Informationen über Ziele.
Neumann: Die Türkei ist für IS sehr wichtig. Sie ist der sichere Hafen, von dem aus die Auslandskämpfer nach Syrien kommen. Die gehen nicht über Jordanien, weil die Türkei die Existenz dieser dschihadistischen Gruppen in ihrem Territorium toleriert und teils begünstigt hat. Wie in Washington war man auch in Ankara überrascht vom Aufstieg des IS und merkt jetzt, dass man ein Monster geschaffen hat. Wenn man jetzt aber innerhalb der eigenen Grenzen gegen IS vorgeht, könnte sich der Ärger auch gegen die Türkei richten.
Neumann: Nein, als Nächstes stehen Jordanien und Libanon auf der Liste. Mittelfristig ist vor allem für die Ideologen Israel samt Jerusalem wichtig. Das hört man oft in Videos: „Bald 'Inschalla' (dt.: so Gott will) sind wir in Jerusalem.“ Und wenn man dieses Kalifat im Levante (die Länder des östlichen Mittelmeers, Anm. d. Red.) konsolidiert hat, will man die ganze Welt.
Neumann: In den letzten Tagen habe ich mir häufiger Gedanken gemacht. Aber ich glaube nicht, dass Angst Sinn macht. Ich lebe mein Leben ganz normal. Es ist nicht so, dass ich mich ständig umdrehe und schaue, wer mir folgt.
Standpunkt: Die Instrumentalisierung ist widerlich
Peter Neumann
Der Würzburger Peter Neumann ist Professor am renommierten Londoner King's College und leitet dort das „Internationale Zentrum zum Studium von Radikalisierung“. Mit einem vierköpfigen Team durchforstet er soziale Netzwerke nach Dschihadisten. Deren Profile liefern oft Informationen über Aufenthaltsort, Waffen oder Funktionen innerhalb der Terrororganisation IS. Dabei arbeitet Neumann mit Regierungen, Nachrichtendiensten und internationalen Organisationen zusammen. Bei den Beratungen des UN-Sicherheitsrats über die kürzlich verabschiedete Resolution gegen ausländische Kämpfer war der 39-Jährige einziger externer Berater. Neumann lebt seit 15 Jahren in London, vorher war er in Belfast, Madrid und Washington tätig.