Was kümmert es uns, wenn in Brasilien eine Art verschwindet, von der wir sowieso nichts wussten? Und wäre es nicht schön, wenn die nervigen Mücken aussterben würden? Überhaupt nicht, sagt die Würzburger Biologin Dr. Frauke Fischer. Während ihrer langjährigen Arbeit in Afrika als Leiterin der Forschungsstation im ivorischen Comoé Nationalpark merkte sie, wie entscheidend Biodiversität ist. "Zerstören wir unbedacht diese Vielfalt, gefährden wir auch unsere eigene Existenz", sagt Fischer. In einem gerade erschienen Buch wirft die Ökologin zusammen mit Wirtschaftswissenschaftlerin Dr. Hilke Oberhansberg jetzt einen lehrreichen wie unterhaltsam Blick auf die biologische Vielfalt - und auf die Bedeutung für unser Leben. Ein Gespräch über Warzenschweine, teure Kirschen - und ja, auch Corona.
Dr. Frauke Fischer: Das war keine Art, die komplett verschwunden ist. In meiner Zeit in Afrika gab es im Comoé Nationalpark schon fast keine Elefanten und Löwen mehr. Aber als ich angefangen habe, dort zu arbeiten, haben wir jeden Tag Warzenschweine gesehen. Und irgendwann ist es mir aufgefallen: Komisch, da sind gar keine mehr. Irgendwann waren die Warzenschweine so selten, dass es eine ganz besondere Sichtung war. Aber es gibt auch die andere Richtung, die mich sehr beschäftigt hat, obwohl die vermeintlich erst mal gut aussieht.
Fischer: Ich bin ja in den Siebziger Jahren groß geworden, in der Zeit massiver Umweltverschmutzung. Irgendwann ist mir aufgefallen: Es gibt ja wieder Graureiher, es gibt ja wieder Störche! Für mich sah das gut aus, aber nur, weil ich zu jung war, um erlebt zu haben, wie viele Graureiher und Störche eigentlich normal gewesen wären. Für meine heute 82-jährige Mutter gibt es immer noch wenige Störche. In ihrer Kindheit saßen die Störche so dicht an dicht auf dem Kirchendach, dass kein Platz mehr frei war.
Fischer: Bei der Mücke haben wir die einfachste Erklärung: Bartmücken bestäuben Kakao. Ohne Mücke keine Schokolade! Man wünschte, es wäre bei jeder Tierart so einfach.
Fischer: Warzenschweine zerwühlen und strukturieren den Boden und lassen so vielleicht kleine Tümpel für Frösche entstehen. Warzenschweine breiten bestimme Pflanzen aus, weil sie unverdaut Samen von Früchten an anderen Orten wieder ausscheiden. Warzenschweine sind Nahrung von Löwen und Leoparden, haben Zecken, die dann wieder Nahrung von Vögeln sind und, und, und. Wir gehen ja ganz grundsätzlich davon aus, dass es nicht eine einzige Art gibt, die entscheidend ist für unser Überleben. Aber wir wissen einfach viel zu wenig über die Zusammenhänge. Im dramatischsten Fall gibt es tatsächlich eine Art, die alles zusammenhält.
Fischer: Biodiversität brauchen wir für ein stabiles Leben. Die Vielfalt von Arten und Genen ist Voraussetzung für intakte Ökosysteme. Wir vergessen gerne, wie sehr wir abhängig sind von den Leistungen dieser Ökosysteme. Biodiversität stellt sicher, dass wir etwas zu essen haben, dass die Luft klar ist und das Wasser trinkbar, dass wir schneller gesund und seltener krank werden. Tatsächlich gibt es keinen Lebensbereich, der nicht von Biodiversität abhängig wäre. Wir sind leider nicht in einer Situation, wo nur stellenweise Biodiversität verloren geht. Wir erleben leider einen ganz dramatischen Verlust. Alles deutet auf ein Massensterben hin.
Fischer: Artenvielfalt ist eine Komponente von biologischer Vielfalt. Biodiversität beschreibt die Vielfalt des Lebens insgesamt: genetische Vielfalt, Artenvielfalt, Vielfalt von Ökosystemen. Korallenriffe oder ein tropischer Regenwald sind Beispiele für extrem artenreiche Ökosysteme. Eine Salzwiese an der Nordsee ist artenarm – aber sie ist trotzdem ein ganz besonderer Lebensraum, mit Tier- und Pflanzenarten, die es eben nur hier gibt.
Fischer: Eine geringe Individuenzahl bedeutet eine geringe genetische Diversität. Das macht die Angelegenheit fragil. Geparde sind so ein Beispiel. Es gibt nicht mehr viele, sie waren schon mal fast ausgestorben und sind alle sehr eng miteinander verwandt. Wenn eine Krankheit auftreten sollte, haben Geparde zwar kein schlechtes Immunsystem – aber sie haben alle das gleiche. Das kann gefährlich werden. Nehmen wir Corona: Unser Glück ist, dass es über sieben Milliarden Menschen gibt, die genetisch so divers sind, dass Corona uns als Art insgesamt nicht töten wird.
Fischer: Genau. Es gibt ja einige, die das genau so sagen: Was sollen wir damit, was hat die Mücke denn je für uns getan? Ist doch egal, wenn Blauwal oder Eisbär aussterben, oder? Die Antwort ist: Organismen und vor allem diverse Ökosysteme tun sehr, sehr viel für uns. Und je diverser diese Dienstleister sind, umso sicherer können wir uns fühlen. Und wenn wir uns alle fragen, was hat wer für uns getan, was wäre, wenn die Mücke uns mal fragen würde: Was hat der Mensch für die Mücke getan – da stünden wir ganz schön blöd da.
Fischer: Momentan leider nicht so viel. Die Mücke käme ohne uns vielleicht besser klar. Aber vielleicht ist schon die Frage falsch gestellt. Denn sie impliziert, wir tun da was „für die“, quasi aus Gutherzigkeit. Tatsächlich täten wir beim Schutz von Arten, Ökosystemen und dem Erhalt von Tieren und Pflanzen in großer Zahl etwas für uns. Naturschutz ist Menschheitsschutz. Das müssen - bitte großschreiben - ALLE verstehen.
Fischer: Eine kritische Sache. Bei Bestäubern ist es natürlich offensichtlich. Da kann man direkt sagen: Wenn wir nicht wollen, dass Kirschen teurer werden, sollten wir Bienen erhalten. Aber wir wollen es darauf nicht reduzieren. Wir wissen viel zu wenig. Wer weiß schon, dass die Haut des Orinoco-Limettenbaumfroschs ein Eiweiß enthält, das gegen den Gelbfieber-Erreger wirkt? Aber ich würde noch einen Schritt weiter gehen: Ein Organismus muss nicht belegen, was seine Funktion für den Menschen ist. Darum geht es nicht. Im Netz des Lebens hängt einfach sehr viel zusammen und voneinander ab. Als Bild vielleicht: Wer in einer kompliziert geknüpften Hängematte liegt, der sollte nicht anfangen, wahllos Knoten zu lösen und Fäden durchzuschneiden, wenn er nicht unsanft auf dem Boden landen möchte. Das ist unsere Situation.
Fischer: Man sieht es im Gebiet um den zerstörten Atomreaktor in Tschernobyl. Da hat sich Natur teilweise erholt. Aber zu welchem Preis für uns Menschen? Wir sind schon jetzt in einer Situation, in der wir genau darauf hoffen müssen, dass die Natur die Kraft hat, trotz aller Schläge nicht in die Knie zu gehen. In einer relativ neuen Publikation ist versucht worden auszurechnen, wie viel „lebende“ Biomasse es auf der Erde gibt und wie sie verteilt ist. Es gibt Belege, dass die weltweite Biomasse von Säugetieren seit 1970 um 82 Prozent abgenommen hat. Heute verteilen sich bei den Säugetieren 96 Prozent der Biomasse weltweit auf ganze drei Arten: den Mensch, das Hausrind und das Hausschwein.
Fischer: Ja: Wale, Nilpferde, Nashörner, Elefanten . . . alle machen nur noch vier Prozent des Gewichts von Säugetieren auf dieser Erde aus. Total erschreckend. Das Problem fängt nicht erst an, wenn Arten verschwinden. Wir haben wirklich ein Biomasse-Problem. Wir haben so viele Individuen vernichtet. Für den afrikanischen Kontinent gibt es Schätzungen, dass dort noch vor 100 Jahren 12 Millionen Elefanten lebten. Heute sind es vielleicht noch 400 000 Elefanten. Bei Blauwalen geht man von einem Rest von zwei Prozent der ursprünglichen Population aus. Bei Löwen zehn Prozent. Wir haben so viele einzelne Tiere umgebracht, dass es kritisch wird bei der Regenerationsfähigkeit. Es gibt vermutlich noch 1000 Berggorillas auf der Welt, die leben in zwei Populationen getrennt voneinander. Angenommen, dort grassiert ein Virus wie Corona – dann war es das mit den Berggorillas. Das haben wir bei zu vielen Arten so weit getrieben.
Fischer: Unsere zentrale Aussage ist: Biodiversität zu erhalten ist immer die billigere Alternative zu allen anderen! Natürlich kann man die Mangroven entfernen und Shrimps-Farmen dort ansiedeln. Aber dann muss man so viel in den Küstenschutz investieren, dass es billiger gewesen wäre, die Mangroven stehen zu lassen. Und wenn Sie Kirschblüten von Hand bestäuben müssen, werden Kirschen irgendwann zum Luxusgut. Es gibt viele Gründe, Biodiversität zu erhalten. Ethische, moralische, auch ästhetische – und eben handfeste wirtschaftliche! Wie jetzt gerade die Pandemie und die wirtschaftlichen Verwerfungen zeigen. Es ist ja Wahnsinn, was das kostet.
Fischer: Auch wenn die Forschung noch nicht abgeschlossen ist: Es deutet ja alles darauf hin, dass die Pandemien aus gestörten tropischen Regenwäldern kommen. Hätten wir die Regenwälder geschützt, wäre die Wahrscheinlichkeit, dass es zu solch einem Ausbruch kommt, sehr viel geringer. Wenn die Fledermäuse, die geschätzt bis zu 3000 verschiedene Coronaviren beherbergen, durch Räuber oder Konkurrenten in Schach gehalten werden und wenn kein Mensch in engen Kontakt mit ihnen kommt, weil kein Holz eingeschlagen und kein Wildfleisch gehandelt wird, bleibt der Virus, wo er ist.
Fischer: . . . wäre ein Desaster, weil sie Pflanzen bestäuben und Insekten in Zaum halten, die vielleicht andere Krankheiten übertragen würden. Keine Art existiert unabhängig von anderen – wir Menschen sind da keine Ausnahme. Es ist am besten, man lässt die natürlichen Systeme so intakt wie möglich.
Und das Buch dann unter den Weihnachtsbaum...