Tiere, Tiere, Tiere. „Meine allererste Erinnerung sind Tiere“, sagt Karl Eduard Linsenmair. Tolerante Eltern habe er gehabt, die sich nicht am Zoo zu Hause störten. „Eigentlich haben wir in Käfigen gewohnt“, sagt der Biologe, schmunzelnd. Das Studienfach war keine Frage: Zoologie und Botanik. Mit Chemie, Anthropologie und Psychologie. Seine Dissertation schrieb Linsenmair über die „Konstruktion und Signalfunktion der Sandpyramide der Reiterkrabbe“. Neun Monate war er in Nordafrika unterwegs gewesen – und hatte begonnen, in der Wüste zu arbeiten. Eine Fundgrube für biologische Fragen. „Wüsten sind wunderschön übersichtlich, es gibt ganz klare Fragestellungen.“ Schon damals interessierte sich Linsenmair vor allem dafür, wie es Organismen schaffen, sich an extreme Bedingungen anzupassen. Und wie an Veränderungen? An Unvorhersehbares?
„Um Wüsten muss man sich nicht so viele Sorgen machen. Um alles andere schon.“ Bereits in den 70er Jahren sei klar gewesen, „was da laufen wird“, sagt der Biologe. Vielleicht habe man die Dimensionen noch nicht absehen können. Aber die Richtung war klar: „Dass wir den ganzen Planeten überstrapazieren in jede Richtung.“ Klimawandel? „Davon hätten sie bei mir schon in den ersten Vorlesungen hören können.“ 1976 war Linsenmair als Professor für Tierökologie ans Zoologische Institut der Uni Würzburg berufen worden. Auf sein Betreiben bekam der Lehrstuhl bald einen Zusatz: „Tierökologie und Tropenbiologie“.
Bis heute ist es der einzige Lehrstuhl in Deutschland, der in Forschung und Lehre speziell auch die Biologie tropischer Organismen vertritt. Während an anderen Universitäten die klassische Biologie von Flora und Fauna immer stärker von schicken neuen Disziplinen verdrängt wurde, führten die Biologie der Organismen und die molekulare Biologie in Würzburg eine einträgliche Koexistenz. „Das war immer die Stärke von Würzburg“, sagt der Tierökologe. Und sorgt sich. Vor zwei Jahren wurde sein Professorenkollege Bert Hölldobler emeritiert. Bis heute ist der zweite zoologische Lehrstuhl, der für Verhaltensphysiologie und Soziobiologie, nicht neu besetzt. „Ein Trauerspiel“, sagt Linsenmair. Und hofft, dass seinem Lehrstuhl das selbe Schicksal erspart bleibt.
Seit das deutsche Beamtenrecht ihn von seinem Würzburger Lehrstuhl verbannt hat, betreibt Ameisenspezialist Bert Hölldobler seine weltweit beachtete Forschung von Arizona aus. Auch Linsenmair wird weiter forschen, wenn er nun offiziell, formal ausscheidet. Aber die USA kommen für ihn nicht infrage. „Ich werde hier bleiben und hier arbeiten können.“ Linsenmair hat große Drittmittelprojekte nach Würzburg geholt – das Interesse, dass er weiter macht, ist entsprechend groß.
Der 67-Jährige wird weiter regelmäßig nach Afrika reisen – so wie seit 30 Jahren. Von den Wüsten und Halbwüsten Nordafrikas richtete sich sein Forscherblick bald auf die Savannen und Regenwälder im Westen. Die Tropen sind „der problematischste Raum“, was die Ökologie angeht. „Dort haben wir die Großsysteme, die mit am massivsten leiden.“
Als einziger deutscher Lehrstuhl verfügen die Würzburger Tropenbiologen über eine feste Forschungsstation: Nach jahrelangem Anträge-Schreiben und der Überwindung Dutzender bürokratischer Hürden („die deutschen waren höher als die afrikanischen“), konnte das Würzburger Tropenteam vor acht Jahren im Comoé-Nationalpark in der Elfenbeinküste, im größten Savannenschutzgebiet Westafrikas, ein einfaches Forschercamp zur großen Station ausbauen. Es ist ein wunderbarer Ort für die Biologen: Die Unesco hat den Park ob seines Artenreichtums zum Weltnaturerbe ausgerufen, von der Trockensavanne bis zu üppig bewachsenen Waldregionen finden sich dort die unterschiedlichsten Lebensräume. Ein Refugium für ungezählte Organismen. Doch das Reservat leidet – am meisten unter Wilderei. „Busch-Meat ist die ganz große Problematik.“ Und Flüsse sind überfischt und verschmutzt. Vögel und Fische sind bedroht, und alle Säugetiere ab Hasengröße.
Dutzende Diplom- und Doktorarbeiten sind in Comoé entstanden, ungezählte Wissenschaftler spürten von der Tropenstation aus den vielfältigen Prozessen in der sensiblen Savanne nach, erkundeten Gemeinschaften im Boden und das Leben in den Baumkronen. Bis 2002 der Bürgerkrieg dazwischen kam. Als Linsenmair seine Forschungen in der Elfenbeinküste begann, galt das Land als das stabilste Schwarzafrikas. Vorbei. Die Kämpfe zwischen Armee und Rebellen machten das Arbeiten unmöglich, zwei Mal wurde die Station bereits ausgeraubt. Doch die Bausubstanz sei noch da, sagt Linsenmair. Er hofft auf demokratische Wahlen in diesem Herbst: „Dann könnte man sofort wieder anfangen.“
Wie kann man natürliche Flächen in Nutzflächen umwandeln, ohne alles zu zerstören? Wie lassen sich Übererntung und Übernutzung verhindern, trotz des stetigen wachsenden Bevölkerungsdrucks, des riesigen Landhungers? Wie dem Klimawandel gegensteuern? Es sind die Fragen, die den Biologen seit über drei Jahrzehnten umtreiben.
In der dicht bevölkerten, von Armut geprägten Region zwischen Atlantikküste und Sahara verstärkt die Ausbeutung der natürlichen Ressourcen den Klimawandel massiv. Es regnet immer seltener und unvorhersehbarer – den Ökosystemen droht der Kollaps. Der Sahel, immer schon eine besondere Problemzone, könne bis zu 80 Prozent seiner Tier- und Pflanzenarten verlieren, prognostiziert der 67-jährige Forscher.
Seit 2001 erarbeitet Linsenmairs Lehrstuhl mit 15 weiteren Universitäten und Instituten aus Deutschland, Burkina Faso, Benin und der Elfenbeinküste im Projekt „Biota West“ Handlungsrezepte: Zoologen und Botaniker, Chemiker und Ethnologen, Bodenkundler und Sozioökonomen suchen unter Würzburger Federführung gemeinsam nach Lösungen, wie die „Dienstleistungen“ und Produkte der Natur schonend und nachhaltig genutzt werden können.
Bleibt dazu noch die Zeit? Der Forscher zuckt mit den Schultern. „In jeder Beziehung läuft uns die Zeit davon.“ Den Wettlauf gegen die Uhr könne man nur noch partiell gewinnen, sagt Linsenmair. Und verweist auf Verzögerungsmechanismen: „Der Wald steht noch da – in Wirklichkeit ist er schon gestorben.“ Sicher ist nur: „Der Mensch braucht die Tropen.“ Braucht die Ökosysteme, deren Funktionen er allenfalls in Ansätzen verstanden hat. „Wir wissen nur, dass wir absolut notwendig von ihnen abhängen. Aber wir pfuschen in einem unglaublich hohen Maße darin herum.“
Wie hält man das aus? Die quälende akribische Arbeit bei tropischer Hitze und nahezu 100 Prozent Luftfeuchtigkeit? Die Gewissheit, dass der Regenwald stirbt? Die Gewissheit, dass durch die Einflüsse der Industrieländer viel traditionelles Wissen in Afrika verloren geht? Wie erträgt man, dass man vorne kleine Raupen und Falter in den Baumwipfeln zählt und hinten die großen Raupen und Maschinen kommen und alles niederwalzen? „Es ist furchtbar, aber man darf die Hoffnung nicht aufgeben“, sagt der Biologe, der sich selbst einen „kritischen Realisten“ nennt. „Es gibt noch eine Menge, was wir retten können.“
Die Begegnungen mit den Menschen in Afrika entschädigen. Die Wolken, die nach dem Regen aus dem Wald aufsteigen. Der Nachthimmel in der Sahara. Und natürlich die Tiere. Die trickreich getarnten. Die wunderschönen. Die biologisch einzigartigen, erstmals entdeckten, noch nie bestimmten. Er mag sie alle. „Die einzigen, die ich nicht mag, sind die Nacktschnecken in meinem Garten“, sagt Linsenmair. Und fügt, um ihnen nicht Unrecht zu tun, noch an: „Aber auch nur die auf meinem Salat.“