Die dunklen Augen fixieren den Bildschirm. Konzentriert, fast ohne zu blinzeln. Ein Tusch, die Kapelle setzt ein. Tobias Berthel rückt im Rollstuhl nach vorne. Die Titelmusik von "Fastnacht in Franken" erklingt. Berthels Augen leuchten auf, seine Finger suchen nach den Schwestern links und rechts. Die verstehen, stimmen ein: "Es lebe unsre Fasenacht." Da erscheint ein breites Lächeln auf Tobias Berthels Gesicht. Reine Freude. "Tobi liebt 'Fastnacht in Franken'", sagt seine Schwester Ivonne. Jeden, wirklich ausnahmslos jeden Tag schaue der 23-Jährige den Frankenfasching im Fernsehen. "Das ist so seit ich denken kann. Für ihn ist es ein Lebensinhalt."
Tobias Berthel leidet am sogenannten Allan-Herndon-Dudley-Syndrom. Die sehr seltene Entwicklungsstörung ist mit schweren geistigen und körperlichen Einschränkungen verbunden. Betroffene können in der Regel nicht sprechen und ihre Bewegungen kaum kontrollieren. "Tobias wurde gesund geboren, aber dann fand keine Entwicklung statt", sagt seine Mutter Renate Korus. Für die Familie folgte ein "Marathon an Arztbesuchen", belastend und lange vergeblich. Erst vor vier Jahren habe die Würzburger Uniklinik die Krankheit diagnostizieren können. Eine Behandlung oder Heilung gibt es nicht.
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Heute lebt Tobias Berthel in einer Wohngemeinschaft des St.-Josefs-Stifts Eisingen in Kitzingen. Die hellblauen Wände in seinem Zimmer schmücken Luftschlangen, Bilder seiner Familie, ein Kalender von "Fastnacht in Franken". Zwei Mal war der 23-Jährige live in Veitshöchheim dabei. Auch in diesem Jahr wird er mit seiner Schwester die Prunksitzung besuchen dürfen – noch weiß er davon nichts. "Er würde uns sonst alle verrückt machen", sagt Ivonne Berthel. Denn auch wenn ihr Bruder nicht sprechen kann: "Tobi zeigt ganz genau, was er will".
Mit Gesten macht sich der 23-Jährige seiner Familie und den Betreuern verständlich. Nicht mit den offiziellen der deutschen Gebärdensprache, "die sind motorisch für ihn unmöglich", so Ivonne Berthel. Stattdessen habe die Familie einige Zeichen abgewandelt oder neue erfunden. Ein Plakat am Schrank zeigt die wichtigsten. Mama und Papa etwa, Schwestern, essen oder trinken und natürlich: Fasching. "Die Geste für Fasching könnte er sieben Tage 24 Stunden lang machen", sagt Nicole Berthel, die mittlere der drei Geschwister. "Gell, Tobi?" Ihr Bruder blickt sie an, scheint zu überlegen. Dann ballt er seine linke Hand und presst die Faust immer wieder fest an die Wange. Fasching. Fasching. Fasching. Die beiden jungen Frauen lachen.
Woher aber kommt die Begeisterung für die Fastnacht? "Tobi liebt Quatsch, und er ist mit Fasching groß geworden", sagt Ivonne Berthel. Schon als Kind war er dabei, wenn die Schwestern beim Schautanz oder in der Garde aktiv waren oder die Mutter in der Bütt stand. "Der Spaß und das Tamtam haben ihm gefallen", erzählt seine Mutter. Und natürlich wurde in der Familie die "Fastnacht in Franken" geschaut. Einmal im Jahr.
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Das reicht heute längst nicht mehr. "Bei Tobias läuft die Sendung jeden Tag und das nicht nur einmal", sagt Nicole Berthel. "Wir kennen alle Folgen in- und auswendig." Sogar Weihnachten ist ohne Helau undenkbar: "An Heilig Abend vor dem Gottesdienst will Tobias, dass 'Fastnacht in Franken' angeschaltet wird, sonst geht gar nichts", sagt Renate Korus. "Das nervt uns schon mittlerweile." Sie sagt es mit einem Lachen, durch das Liebe klingt. Auf der Suche nach ein bisschen Abwechslung habe die Familie es früher manchmal mit "Mainz bleibt Mainz" oder dem "Karneval in Köln" versucht. Erfolglos. "Das interessiert Tobias nicht, da schüttelt er vehement den Kopf."
Weder Mainz noch Köln sind interessant: Für Tobias Berthel muss es der Frankenfasching sein
Für den 23-Jährigen muss es Franken sein. Warum? Ivonne Berthel zuckt die Schultern. Vielleicht liege es am vertrauten fränkischen Dialekt, so die 28-Jährige. Sie kennt ihren Bruder nicht anders als faschingsbegeistert. "Wie ein Fußballfan jedes Spiel seines Clubs sehen muss, muss Tobi eben die Fastnacht sehen."
Plötzlich zieht Tobias Berthel energisch an ihrem Arm. Der Einzug in Veitshöchheim ist zu Ende, im Fernsehen wird geklatscht. "Dann müssen alle mitklatschen und Helau rufen", sagt Ivonne Berthel und erfüllt ihre Pflicht. Tobias Berthel strahlt, sein Körper bebt vor Aufregung. Er klatscht gegen die Hände seiner Schwestern, ihre Gesichter spiegeln seine Freude. Eng stehen die drei zusammen. Tobias Berthel zeigt seine Gefühle ungebremst, reißt seine Schwestern mit. Wo die Sprache fehlt, gewinnen die Emotionen an Kraft.
"Tobias ist ein sehr fröhlicher Mensch, der andere Leute in seinen Bann ziehen kann und mit ihnen Blödsinn macht", sagt seine Mutter. "Wenn es ihm gut geht." Wenn nicht oder wenn er nicht bekomme, was er wolle, könne ihr Bruder auch "wütend werden", sagt Ivonne Berthel. Das passiert zum Beispiel, wenn die Schwestern die falsche DVD einlegen.
An diesem Nachmittag scheint es die richtige zu sein. Auf dem Bildschirm erscheint der Kabarettist Michl Müller, einer von Tobias Berthels Favoriten. Aber auch Nilpferddame Amanda und die Altneihauser Feierwehrkapell‘n "dürfen für ihn nicht fehlen", sagt Ivonne Berthel. Und Bernhard Schlereth. Den langjährigen Präsidenten vom Fastnacht-Verband Franken "himmelt Tobi an". Nicole Berthel zeigt ein Fotobuch, das ihre Mutter dem Bruder zu Weihnachten gebastelt hat. Momentaufnahmen der bisherigen Besuche in Veitshöchheim. Inklusive ein Bild mit Schlereth.
"2016 war das, da ist er einfach zu ihm hingerollt", erinnert sich Renate Korus. Auf dem Foto trägt ihr Sohn eine rot-glitzernde Krawatte und einen schwarzen Hut. Er lacht Schlereth offen und unverhohlen begeistert an, wollte sein Idol kennen lernen. Berührungsängste hat der 23-Jährige keine.
Mit seinem Finger zeigt Tobias Berthel auf den Schnappschuss, tippt immer wieder auf das Bild. Erst als Schlereth im Fernsehen ins Bild kommt, blickt Tobias von dem Album auf. Ein freudiger Laut entfährt ihm. "Ja, da ist er", sagt seine Schwester Ivonne. "Genau wie auf dem Foto sieht er aus." Auch Tobias Berthel hat sein Kostüm natürlich noch. Ivonne Berthel bindet ihm vorsichtig die Krawatte um. Der Bruder schaukelt im Rollstuhl vor und zurück, er ist glücklich.
Längst hat der Lärm andere Mitglieder der Wohngemeinschaft angelockt. Neugierig schauen sie durch die offene Tür, ein Mann kommt herein und stellt sich neben den 23-Jährigen. "Je mehr mitgucken, desto besser gefällt es Tobi", sagt Ivonne Berthel. Im vergangenen Jahr hätten deshalb alle Bewohner gemeinsam den Frankenfasching auf Großleinwand geschaut, erzählt Heimleiterin Linda Schmelzer. "Da war Tobias der Star." Die Betreuer legen ihm ganz selbstverständlich täglich seine Fastnachts-DVDs in den Player. "Für ihn ist die Welt in Ordnung, wenn der Fasching läuft", sagt Schmelzer.
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Allerdings hinterlässt Tobias Berthels Enthusiasmus Spuren. Die alten Videokassetten, die der Onkel einst aufgenommen hatte, sind längst verschlissen. Ersatzweise stapeln sich nun DVDs im Regal, kaum eine ohne Kratzer. Zu oft wurden sie ungeduldig ausgepackt, nicht selten fallen gelassen. Das Problem: Kaufen könne man die Aufzeichnungen der Sendung nicht, sagt Ivonne Berthel. Deswegen wandte sich ihre Mutter an den Bayerischen Rundfunk – und tatsächlich bekam ihr Bruder ein riesiges Paket mit Mitschnitten. "Wenn wir ihn nicht bremsen würden, würde er die fünf Stunden lang am Stück schauen", sagt Nicole Berthel.
Klar ist deshalb: "Auch wir werden 'Fastnacht in Franken' immer wieder schauen, da kommen wir nicht drum herum", sagt Renate Korus. Die 55-Jährige wohnt mittlerweile mit ihrem Mann bei Bonn, ein- bis zweimal im Monat kommt sie zu ihren Kindern. Ihre beiden Töchter leben nach wie vor in Franken. Jedes Wochenende besuchen die jungen Frauen ihren Bruder in Kitzingen. Fasching sei in dieser Zeit ausnahmsweise tabu, sagt Ivonne Berthel, "da gehen wir mit ihm raus".
Am 13. Februar darf Tobias Berthel erneut zur Generalprobe von "Fastnacht in Franken"
Wieder piekst sie ein Finger in die Seite. Im Fernsehen fränkelt Klaus Karl-Kraus. Ivonne Berthel beugt sich zu ihrem Bruder. Sie spricht langsam und deutlich mit ihm, in einfachen Worten, ohne jede Herablassung. Am 13. Februar wird sie den 23-Jährigen nach Veitshöchheim zur Generalprobe von "Fastnacht in Franken" begleiten. "Als Tobi beim letzten Mal live dabei war und die Titelmusik erklang, suche er erst nach einem Bildschirm, verstand nicht sofort, dass er mittendrin war", erzählt Ivonne Berthel. "Als er das realisierte, explodierte er vor Freude." Ihr Bruder schaut sie an, legt die Faust an die Wange. Fasching. Sie nickt.
Als sie sich am Abend verabschiedet, umarmt sie ihren Bruder fest. Seine Finger schließen sich um ihren Oberkörper, klammern sich an die Schwester, minutenlang. "Ich hab dich lieb", flüstert sie ihm ins Ohr. In einer Woche wird sie gemeinsam mit ihrer Mutter wiederkommen, um ihn abzuholen. Mit einem neuen rot-weißen Kostüm. Zu "Fastnacht in Franken".
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