Wenn ich an die Kindheit denke, dann sind im Hirnkästlein mit den Fernseherinnerungen nicht nur die Klassiker wie Michel aus Lönneberga, Daktari oder die Katze mit Hut aus der Backpflaumenallee säuberlich abgelegt, sondern auch eine Sendung, die es damals wie heute gibt – was ja an sich schon eine Sensation ist: „Mainz bleibt Mainz, wie es singt und lacht“. In diesem Jahr wird die Fernsehprunksitzung 60 Jahre alt, und so einem Senior darf zum Jubiläum gerne mal eine Luftschlange hinterhergeworfen werden. Denn – und das wissen viele Spätgeborene ja gar nicht mehr – diese Sendung war mal ein Ereignis wie heute nur der Verkaufsstart für ein neues iPhone oder ein WM-Titel für Jogischweinipoldi.
Es war die Zeit, als das Fernsehen laufen lernte. Im Herbst 1954 geht die ARD erstmals auf Sendung, und schon wenige Monate später, am 17. Februar 1955, überträgt der Kanal eine Gemeinschaftssitzung des Mainzer Carneval-Verein (MCV) und Mainzer Carneval Club (MCC) unter dem Motto „Mainz wie es singt und lacht“. Seither kehrt die Narrenschar jährlich wieder wie Weihnachten. Das Format ist im Nachkriegsdeutschland ein Renner und wurde irgendwie auch zu einer Art Blaupause für den organisierten Frohsinn hierzulande. Auch mangels Alternativen, klar, schauten bis 30 Millionen Menschen zu, wenn die Mainzer Narren der politischen Klasse den Spiegel vorhielten.
Der junge Kohl, der gewiefte Strauß, der naseweise Blüm, sie alle bekamen hier im Kurfürstlichen Schloss zu Mainz ihr Fett weg. Kohl, der Pfälzer, weniger als Strauß, der Bayer. Rolf Braun sagte einmal über die Kanzlerkandidatur und in Anspielung an den Blumenfreund Konrad Adenauer: „Das Rosenzüchten hat Kohl schon gelernt, jetzt muss er es nur noch schaffen, den Strauß zu binden.“ Über 25 Jahre lang, bis zu seinem Abtritt 1989 war Rolf Braun so etwas wie das Gesicht der Sendung. Der 2006 verstorbene Sitzungspräsident war schlagfertig, spontan und bleibt nicht nur wegen seiner dicken Hornbrille in Erinnerung, sondern auch wegen solch prägender Satzerfindungen: „Wolle mer'n eroilosse?“
Von Norbert Blüm, dem Renten-Blüm, ist auch eine schöne Anekdote aus dem Jahre 1992 überliefert, eben erst war sie in einer liebevollen Jubiläums-Doku des SWR zu sehen. Als Erna Kaludrichkeit alias Manfred Friedrich in der Bütt über Bundesminister Blüm spricht und eine Kunstpause macht, entert der echte Blüm die Bühne und komplettiert unter dem Gelächter der Gäste den Satz.
Bei Kartoffelsalat und Würstchen versammelte sich eine Nation und lachte über den Kokolores aus Mainz. „Das war mein erstes Public Viewing“, erinnert sich Bernhard Schlereth, Präsident des Fastnacht-Verbandes Franken, an seine Kinderzeit, „in der wir mit den Eltern in einer Wirtschaft in Veitshöchheim die Mainzer Fastnacht anschauten“. Für Schlereth, der mit „Fastnacht in Franken“ die zweite Live-Fernsehsitzung in Deutschland mitverantwortet, ist Mainz „vor allem ein Vorbild für den literarischen Karneval. Das ist die Mutter aller Fastnachtssendungen.“ In diesem Jahr wird Schlereth erstmals live vor Ort sein.
Ähnlich erinnert sich Büttenredner Peter Kuhn von der Schwarzen Elf in Schweinfurt: „Mainz bleibt Mainz war die einzige Sendung, bei der ich als Kind länger aufbleiben durfte.“ Die politische Rede, mit der er selbst nun seit Jahren brilliert, stand damals nicht im Fokus von klein Peter: „Mir gefielen die Gonsbachlerchen, Margit Sponheimer und das ganz bunte Brimborium.“
Überhaupt die Lieder. Kaum eine andere deutsche Sendung prägte solche Klassiker: „Heile, heile Gänsje“ etwa, das seit Generationen besorgte Mütter ihren Kindern zuflüstern, während sie mit der Hand sanft über das aufgeschürfte Knie fahren, ist kein Gedicht aus einer modernen Pädagogikfibel, sondern ein Fastnachtslied, das Ernst Neger, der singende Dachdecker, in den 50er Jahren berühmt gemacht hat. Die später hinzugedichtete, vierte Strophe über ihre kriegszerstörte Stadt treibt bis heute den Meenzern die Tränen in die Augen. Und bei Rucki-Zucki schlackern noch heute die Arme auf jeder Faschingsparty zwischen Flensburg und Friedrichshafen, trotz – oder vielleicht auch gerade wegen DJ Ötzi und Helene Fischer.
1964 war es dann „Humba Täterä“, das fast zu einem Fernsehskandal geführt hätte. Als Ernst Neger das Lied im Rahmen der Livesendung uraufführte, ließ sich das Publikum nicht mehr beruhigen. Verwackelte SchwarzWeiß-Aufnahmen zeigen, wie die Menschen auf die Stühle stiegen und einfach nicht mehr aufhörten, das Lied zu singen. Humba. Humba. Immer weiter ging das so. Humba in der Endlosschleife. Neger war da längst von der Bühne gegangen. Erst als er irgendwann noch mal zurückkehrte, ließen sich die Narren zähmen. Die ARD überzog eine Stunde. Mit 89 Prozent Marktanteil wurde die höchste Quote der Fernsehgeschichte gemessen. Die anderen schauten ZDF. Im „Spiegel“ stand später einmal zu lesen, deutsche Entwicklungshelfer seien in Teilen Afrikas gefragt worden, ob das Humba Täterä nicht die deutsche Nationalhymne sei.
Margit Sponheimer, 74 Jahre mittlerweile, ist das andere singende Original: „Am Rosenmontag bin ich geboren“ ist ihr größter Hit, veröffentlicht 1969. Und erst die Mainzer Hofsänger, die Deutschland „So ein Tag, so wunderschön wie heute“ schenkten. Ein Ohrwurm. Etwas für die Ewigkeit. Seine Oma, schrieb der Kolumnist Harald Martenstein einmal, ein gebürtiger Mainzer, sei jedes Mal im letzten Drittel der Sendung eingeschlafen: „Bei den Hofsängern wurde sie auch jedes Mal wieder wach und fing sofort an, vor Rührung zu weinen.“ Diese Sitzung, so Martenstein, „ist ein kulturelles Langzeitprojekt, vergleichbar nur mit den Pyramiden von Gizeh“.
Heute scheint auch der Live-Klassiker, der seit 1973 im jährlichen Wechsel von ARD und ZDF übertragen wird, etwas aus der Zeit gefallen, er gibt sich jedoch vitaler als noch vor zehn Jahren. 2014 jedoch ist die Einschaltquote auf unter sechs Millionen gerutscht. Die Konkurrenz, nicht nur im TV, ist groß, die Medien- und die Humorwelt, sie haben sich verändert.
So ist Mainz bleibt Mainz ein liebenswerter Anachronismus in Zeiten des Dschungelcamp-Fernsehens mit all seinen Stars, die nur die Halbwertszeit einer Zigarettenlänge erreichen. Aber wie geht es weiter? Ernst Neger ist lange tot. Sein Enkel Thomas Neger, der aussieht wie eine Mischung aus Matthias Reim und Howard Carpendale, führt die Tradition fort. Als Dachdecker und Sänger. Am vergangenen Sonntag ist auch Jürgen Dietz gestorben, über 30 Jahre lang war er der „Bote vom Bundestag“ in der Bütt, ein Urgestein des Mainzer Carneval-Vereins. Seine Auftritte hatte er, gezeichnet von der Krankheit, bereits im Januar abgesagt. Bei der großen MCV-Vereinssitzung am Sonntag in der Rheingoldhalle wird der Schweinfurter Peter Kuhn als politischer Redner versuchen, die Lücke zu füllen.
In der Sendung am heutigen Freitag (20.15 Uhr/live in der ARD) werden die Mainzer ihres Jürgen Dietz, des Mannes mit der pointierten Prosa, gedenken. Verabschiedet hat er sich in all den Jahren immer mit einem Satz, der sich dann doch reimte. Ein Satz, der ihn überdauern wird – und der vielleicht in naher oder ferner Zeit auch für die Sendung steht, die den „Boten vom Bundestag“ bekannt gemacht hat: „Deutschland, Deutschland über alles, über alles wächst mal Gras. Ist das Gras ein Stück gewachsen, frisst's ein Schaf und sagt: Das war's.“
Der Mainzer Fastnachts-Klassiker: Heile, heile Gänsje
Refrain: Heile, heile Gänsje, ist bald wieder gut.
Kätzje hot e Schwänzje, ist bald wieder gut.
Heile, heile Mausespeck, In hundert Jahr ist alles weg!
1. Bei all den kleinen Kinderlein
Gibt's manchen großen Schmerz,
Hat's Püppchen was am Fingerlein
Bricht Mutti fast das Herz;
Dann kommt die Mamma schnell herbei.
Nimmt's Kindchen auf den Schoß
und sagt bedauernd: Ei, ei, ei,
Was hat mein Kindchen bloß?
Bewegt sie es ans Herze zieht
Und singet ihm zum Trost das Lied. / Ref.
2. Und ist das Kindchen größer dann, Erwacht im Herz die Lieb,
Es dreht sich alles um den Mann,
Den bösen Herzensdieb,
Doch wenn das Herz in Flammen steht,
Vor Liebe, Lust und Glück,
Der Mann gar oft von dannen geht.
Läßt weinend es zurück.
Dann singt die Mutter angst und bang das Lied,
Das Lied das sie dem Kind einst sang. / Ref.
3. Das Leben ist kein Tanzlokal,
Das Leben ist sehr ernst.
Es bringt so manche Herzensqual,
Wenn du es kennen lernst.
Doch brich' nicht unter seiner Last,
Sonst wärest du ein Tor,
Und trag' was du zu tragen hast,
Geduldig mit Humor.
Und denk' dein ganzes Leben lang,
Ans Lied das dir die Mutter sang. / Ref.
4. Wär ich einmal der Herrgott heut, Dann wüßte ich nur eins:
Ich nähm' in meine Arme weit
Mein arm', zertrümmert Mainz
Und streichelte es sanft und lind
Und sagt: „Hab nur Geduld.
Ich bau dich wieder auf geschwind,
Du warst ja gar nicht schuld.
Ich mach' dich wieder wunderschön,
Du kannst, du darfst nicht untergeh'n. / Ref.
Text: Martin Mundo und Georg Zimmer-Emden (letzte Strophe).