Ludwig van Beethoven (1770-1827) war fast sein ganzes Leben krank. "Bauchkrämpfe, Durchfall. Er hat sich wohl kaum je einfach nur wohlgefühlt. Außerdem war er allein", sagt der Würzburger Musikforscher Ulrich Konrad. Vor allem die Taubheit habe Beethoven sehr belastet: "Sie ging über Jahre einher mit scheußlichen Störgeräuschen in seinem Kopf."
Nun hat ein internationales Forscherteam Beethovens Erbgut untersucht, um Genaueres über seine Leiden herauszufinden. Ulrich Konrad erklärt, welche überraschenden Ergebnisse es gab.
Wer hat welches Material untersucht?
Acht Haarproben aus privaten und öffentlichen Sammlungen, alle angeblich von Beethoven, wurden paleogenetisch untersucht. Fünf erwiesen sich als mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit dem Komponisten zugehörig, eine hatte nicht genügend Zellmaterial, eine wich in allen Merkmalen zu stark ab. Und eine konnte eindeutig ausgeschlossen werden. Ausgerechnet die berühmte Hiller-Locke, benannt nach dem Komponisten Ferdinand Hiller: Sie stammt von einer Frau.
Für das Projekt haben Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler der britischen Universität Cambridge, des Max-Planck-Instituts für evolutionäre Anthropologie in Leipzig, der Königlichen Universität Leuven in Belgien und das Beethoven-Haus Bonn zusammengearbeitet.
Beethoven hatte selbst im "Heiligenstädter Testament" schon 1802 verfügt, dass nach seinem Tod sein Körper untersucht werde. "Die Menschheit sollte wissen, warum er so gelitten hat", sagt Ulrich Konrad. "Man möchte sich das nicht vorstellen: Zwei Pathologen haben direkt im Sterbezimmer den Leichnam im Bett waidgerecht aufgebrochen." Offenbar schnitt damals auch noch jemand Haare ab, es gibt Berichte, Beethovens Kopf sei danach zerzaust gewesen.
Was ist Paleogenetik?
Paleogenetik befasst sich mit der Analyse genetischer Proben sehr, sehr alter Organismen bis hin zu Fossilien. Eigentlich geht es Paleogenetikern vor allem um die Urgeschichte des Menschen: Wo ist der erste Mensch entstanden? Aus minimalen Knochenfunden können heute vollständige Gensequenzen rekonstruiert werden, etwa die des 300.000 Jahre alten Denisova-Menschen. Mit Beethoven haben die Paleogenetiker jetzt ein viel jüngeres Objekt untersucht.
Die Ergebnisse werden in langwierigen Prozessen gewonnen, etwa durch Sequenzierung, also die Bestimmung der Nukleotid-Abfolge in einem DNA-Molekül, und durch den Abgleich der Proben mit dem Genom von Verwandten, lebenden Nachkommen oder mit Datenbanken. Auch dokumentarische Quellen spielen eine Rolle.
Wie kommt Würzburg ins Spiel?
Prof. Ulrich Konrad, Ordinarius am Institut für Musikforschung der Universität Würzburg, ist nicht nur Bonner, sondern auch Vorsitzender des wissenschaftlichen Beirats des Beethoven-Hauses in Bonn. Das Beethoven-Haus, ein bürgerlicher Verein, bewahrt und erforscht die Hinterlassenschaft des Komponisten – Handschriften, Briefe, Möbel, Hörgeräte oder Schreibwerkzeug.
Und eben eine Locke Beethovens, die dort im Tresor lagert. "Wir mussten die Anfrage der Genetiker im Vorstand beraten, denn die Haare, die man abgibt, sind unwiederbringlich verloren", berichtet Konrad. Man habe sich entschlossen, ein paar Zentimeter Haare zu erübrigen. "Weil wir uns Ergebnisse verspochen haben zu Beethovens Herkunft und seinen Krankheiten." Die Bonner Locke ist glücklicherweise unter den fünf echten.
Warum waren Locken berühmter Menschen so weit verbreitet?
In der Goethe-Zeit, also ab dem frühen 19. Jahrhundert, wurde es Mode, Objekte zu sammeln, die eine direkte Verbindung zu berühmten Menschen herstellten. Handschriftliche Zeugnisse etwa. Das ging nicht so weit wie mit den Reliquien im Katholizismus, aber Haarlocken waren sehr begehrt. So konnte man sich seinem Idol nahe fühlen. "Johann Strauss war so populär, der konnte die ganzen Anfragen gar nicht erfüllen. Er hat dann seinen Pudel genommen", erzählt Konrad.
Welche Ergebnisse gab es zu Beethovens Herkunft?
Vor ein, zwei Jahren sei in den USA die These aufgekommen, der Komponist habe seinen bekannt dunklen Teint von schwarzen Vorfahren gehabt, sagt Konrad. Das sei nun widerlegt. Neu ist allerdings eine andere Erkenntnis: Beethovens Y-Chromosom, das männliche also, passt nicht zu denen von heute noch lebenden Verwandten. Die väterliche Linie der Beethovens lässt sich bis ins 16. Jahrhundert zurückverfolgen, sieben Generationen. "Irgendwo in dieser väterlichen Linie ist ein außerpaariges Ereignis eingetreten, wie es die Genetiker formulieren", sagt Ulrich Konrad.
Also ein Seitensprung. Mehr können die Wissenschaftler dazu nicht sagen, da helfen nur dokumentarische Hinweise: "Es gibt von Beethovens Vater keinen Taufeintrag. Das ungewöhnlich", sagt Konrad. Beethoven selbst habe einen Mythos um seine Herkunft genährt: "Es ist schon früh die Legende aufgekommen, Beethoven sei ein illegitimes Kind von Friedrich-Wilhelm II. Das stand zu Beethovens Lebzeiten sogar in Lexika. Er selbst hat nie etwas dagegen unternommen, weil ihm das wohl geschmeichelt hat."
Hatte Beethoven selbst Nachkommen?
Bislang sind keine Nachkommen Ludwig van Beethovens bekannt. "Aber es existiert seit langem die Erzählung von einer Tochter namens Minona. Da gibt es sogar Kitschromane." Demnach wäre Minona das Ergebnis der Begegnung mit der mysteriösen "unsterblichen Geliebten" gewesen, der Beethoven 1812 einen Brief schrieb, aber nicht abschickte. Adressatin unbekannt: "Mein Engel, mein alles, mein Ich."
Sehr seriöse Forschungen, so Konrad, hätten nun eine Josephine von Stackelberg im Baltischen als mögliche Kandidatin ermittelt. "Da gibt es wohl auch noch das Grab dieser Minona. Wenn dort ebenfalls eine Genom-Sequenzierung möglich wäre, könnte herauskommen, dass sie tatsächlich die Tochter Beethovens war."
Was haben die Untersuchungen zu Beethovens Krankeiten ergeben?
"Soweit sich Beethovens Krankheitsbilder dem Genom zuordnen lassen, kann man sagen, dass er eine Disposition für Leberzirrhose hatte", sagt Ulrich Konrad. Vieles deutet darauf hin, dass der Komponist tatsächlich eine hatte, die auch die Todesursache war. Sie sei befördert worden durch eine Hepatitis-B-Infektion, die die Genetiker nachweisen konnten, und durch seinen Alkoholkonsum, der schon Zeitgenossen hinlänglich bekannt war. "Das war in der Zeit nicht unüblich, denn in Wien Wasser zu trinken, war problematisch." Allerdings hatten die Ärzte dem Komponisten damals schon geraten, weniger zu trinken.
Beethovens quälende chronische Magen-Darm-Beschwerden waren allerdings wohl nicht erblich bedingt. Er sei höchstwahrscheinlich laktoseintolerant gewesen, so der Abschlussbericht, was aber seine Beschwerden nicht erkläre. "Das hat er sich wohl irgendwann mal eingefangen. Er hat in jungen Jahren als Hofmusiker eine Reise von Bonn nach Mergentheim gemacht. Danach war er eine Weile schwer erkrankt. Möglich, dass die Infektion dann chronisch wurde", überlegt Ulrich Konrad.
Gibt es neue Erkenntnisse zu Beethovens Taubheit?
Das berühmteste aller beethovenschen Leiden war zweifellos seine Taubheit. Tatsächlich gibt es erblich bedingte Erkrankungen, die zum Verlust des Gehörs führen können, aber für die fand das Forscherteam keine Anzeichen. "Aber man hat jetzt die Sequenz, und wenn die Forschung weitere Fortschritte macht, kann man hier nochmal nachschauen", sagt Konrad.
Welche Fragen kann die Paleogenetik nicht beantworten?
Inwieweit Beethovens Alkoholkonsum oder seine Leiden seine Kunst beeinflusst haben, darüber können die Paleogenetiker nichts sagen. Aber die zunehmende Kenntnis der Lebensumstände erhöhe den tiefen Respekt vor dem Künstler, sagt Ulrich Konrad: "Die Lebensleistung dieses Beethoven mit allen Anfechtungen, die es nicht verhindert haben, dass er diese großartigen Leistungen vollbrachte. Das beeindruckt mich, und das ist auch ein Hinweis darauf, was wir Menschen an Gutem vermögen."