Wie viele "Ur" vor dem "Großvater" stehen, wenn es um seinen direkten Vorfahren Joseph Drechsler geht, kann Peter Drexler gar nicht sagen. Es sind einige. Den 85-jährigen promovierten Geologen aus Würzburg und den Wiener Domkapellmeister (1782-1852) trennen mehrere Generationen. Dennoch: Eine Doktorarbeit, eingereicht 1983 an der geisteswissenschaftlichen Fakultät der Universität Wien, überbrückt die Distanz der Jahrhunderte mühelos, indem sie das bewegte Leben des vielfach interessierten, vielfach begabten und bestens vernetzten Musikers minutiös nachzeichnet. Es ist ein unstetes Leben mit vielen Stationen, Erfolgen, Misserfolgen, vor allem aber mit viel Arbeit. Eine Begebenheit sticht dabei besonders ins Auge: Die Begegnung mit Ludwig van Beethoven.
In seiner Familie werde das Andenken an den illustren Vorfahren ebenso gepflegt wie die Liebe zur Musik, erzählt Peter Drexler, der früher selbst als Pianist konzertierte. Als forschender Geologe war er weltweit unterwegs, über 70 Mal in Madagaskar, 40 Mal in Brasilien und viele Male in Afrika und Asien. Es war Peter Drexlers Großvater Carl, der von Wien nach Würzburg zog. Im weitesten Sinne blieb dieser der Tradition treu: Carl Drexler war künstlerischer Leiter des 1897 eröffneten Varieté-Theaters Odeon, das sich mit Auftritten von Stars wie der legendären Schauspielerin Eleonora Duse (1858-1924) den Ruf als eines der drei bedeutendsten Bayerns erworben hatte.
Das Leben als Künstler war mit ständiger finanzieller Unsicherheit verbunden
Über seinen Vorfahren Joseph Drechsler sagt Peter Drexler: "Er hat sehr lange kämpfen müssen." Wenn man so will, war dieser seiner Zeit voraus: Für viele seiner Aktivitäten gab es noch keinen geregelten, geschweige denn lukrativen Markt. Er war Komponist, Dirigent und Organist, Kapellmeister an mehreren Wiener Theatern, Lehrer und Musiktheoretiker. Er komponierte nicht nur an die 50 Bühnenwerke, sondern auch Lehrwerke wie eine Orgelschule und eine Harmonielehre. In einer Zeit, in der es weder Urheberrechtsschutz noch Honorar-Standards noch Tarifverträge gab, bedeutete künstlerische Tätigkeit permanente finanzielle Unsicherheit. Als Joseph Drechsler starb, hinterließ er nicht viel mehr als eine silberne Schnupftabakdose, ein paar Kleider und ein altes Fortepiano.
Ebenso wenig geregelt waren übrigens auch die Schreibweisen von Eigennamen. Joseph Drechsler wurde am 26. Mai 1782 in Vlachovo-Brezi in Böhmen als Sohn eines Schullehrers und Kantors geboren. Die Familie taucht in den Quellen als Drechsler, Drexler, Trexler, Traxler und Dröxler auf, schreibt Eva Kitzler, Verfasserin der Dissertation.
In Wien ist Joseph Drechsler bis heute eine Berühmtheit, im 14. Bezirk (Penzing) ist eine Straße nach ihm benannt, auf dem Zentralfriedhof bekam er ein Ehrengrab. Zu Lebzeiten war er nicht zuletzt dank seiner vielen Aktivitäten ein prominenter Mann. "In Wien wird wohl schwerlich ein Musiker seyn, welchem der Herr Profeßor, und Kapellmeister Joseph Drechsler nicht bekannt wäre", heißt es in einer Quelle von 1826. Und: "Seine Geschichte wird daher ein bedeutender und schätzbarer Beitrag für die musikalische Welt allzeit bleiben." Ferdinand, der Bruder Franz Schuberts, zählte zu seinen Schülern ebenso wie Johann Strauss (Sohn). "Den hat er dann aber rausgeschmissen, weil er sich zu sehr der leichten Muse zugewandt hat", erzählt Peter Drexler. "Aus dem Kerl wird nichts werden, hat er gesagt."
In Deutschland kennt außer Experten heute kaum mehr einer den Namen Joseph Drechsler. Dabei ist er der Komponist des auch hierzulande bis heute populären Liedes "Brüderlein fein" aus Ferdinand Raimunds 1826 uraufgeführtem Stück "Das Mädchen aus der Feenwelt oder Der Bauer als Millionär". Mit der 1909 uraufgeführten Operette "Brüderlein fein" hat Leo Fall Joseph Drechsler ein Denkmal gesetzt.
Für Drechsler fand der Eigenbrötler Beethoven durchaus wertschätzende Worte
Eine persönliche Bekanntschaft zwischen Drechsler und Franz Schubert ist nicht nachgewiesen. Dass er und Ludwig von Beethoven einander kannten, ist allerdings durch die sogenannten Konversationshefte des berühmteren Kollegen belegt: Wegen seiner Taubheit konnte Beethoven ab 1818 nur noch schriftlich kommunizieren. Besuchern legte er Hefte vor, in die diese ihre Fragen oder Kommentare schrieben. Beethoven wiederum antwortete mündlich, deshalb ist – so die Hefte überhaupt erhalten sind – immer nur eine Seite der Gespräche überliefert.
Es gibt zwei weitere schriftliche Dokumente, die Beethoven mit Joseph Drechsler in direkte Verdingung bringen. Es sind Bittschreiben Beethovens an Erzherzog Rudolph, den Bruder von Kaiser Franz. Erzherzog Rudolph (1788-1831) komponierte selbst, vor allem aber war er Mäzen Beethovens. Der wiederum setzte sich Ende Juli 1823 für den Kollegen ein.
Nun gilt Beethoven, von dem unter anderem der Ausruf "Für solche Schweine spiele ich nicht!" überliefert ist, nicht unbedingt als besonders gesellig oder gar herzlich. Im Gegenteil: Heute haben wir eher das Bild eines mürrischen Eigenbrötlers von ihm. In Sachen Drechsler aber fand er zu durchaus wertschätzenden Worten.
Erst acht Jahre vor seinem Tod konnte Joseph Drechsler eine bedeutende Stelle antreten
Es ging um die Besetzung der Stelle des zweiten Hoforganisten, um die Drechsler sich bewarb. Im ersten Brief an Rudolph lobt ihn Beethoven: "Er ist ein guter Generalbaßist, wie auch ein guter Orgelspieler, selbst auch als Komponist vortheilhaft bekannt." Und fährt nahezu devot fort: "Ich vereinige daher meine Bitten zwar schüchtern mit denen des Hr. D., jedoch auch überzeugt von der Milde u. Gnade I. K. H. [Ihrer Kaiserlichen Hoheit] wieder mit einiger Hoffnung, daß der Hohe Beschützer und Unterstützer alles Guten auch hier gern wirken werde nach Vermögen."
Der "Hohe Beschützer und Unterstützer alles Guten" allerdings konnte nichts für Drechsler tun, wie er Beethoven mitteilte, denn es werde einen "Concurs", also einen Wettbewerb, um die Stelle geben. Dieser fand im Oktober statt, Drechsler schnitt in den den Kategorien "Praeludium" und "Generalbass" "ziemlich gut" ab, in der Katagorie "Fuga" allerdings nur "mittelmäßig". Er bekam die Stelle nicht.
Im Jahr 1844 schließlich konnte er doch noch eine wichtige Stelle antreten: Nach dem Tod des bisherigen Kapellmeisters Johann Baptist Gänsbacher wurde er dessen Nachfolger als Domkapellmeister von St. Stephan. Er blieb es bis zu seinem Tod am 27. Februar 1852.