Demnächst wird in Bonn Beethovens zehnte Sinfonie uraufgeführt. Vom Computer komponiert. Die Vorfreude von Robert HP Platz hält sich in Grenzen. "Es wird ja immer gesagt, Computer sind bald so weit. Ich nehme mit Vergnügen wahr, was für ein Blödsinn das ist", sagt Platz, selbst Komponist, Dirigent und Professor an der Würzburger Musikhochschule. Und seine Gesprächspartner pflichten ihm bei.
Es sind dies von der Universitätsklinik Würzburg Michael Sendtner, Professor für Klinische Neurobiologie, und Rudolf Hagen, Professor für Hals-Nasen-Ohren-Heilkunde. Und Intendantin Evelyn Meining. Der Anlass: Die Mozartfest-Gesprächsreihe "Allzeit..." Der Ort: der Kapitelsaal im Neubau des Hotels Rebstock, sehr licht bestuhlt mit einigen wenigen Gästen. Immerhin, die Veranstaltung wird live gestreamt und kann jetzt auf dem Youtube-Kanal des Würzburger Mozartfests abgerufen werden.
Der Titel des Gesprächs: "Sprecht lauter, schreyt, denn ich bin taub". Es geht also um den in diesem Jahr so gefeierten Ludwig van Beethoven (1770-1827), der schon mit Anfang 20 bemerkte, dass mit seinem Gehör etwas nicht stimmte. In seinen Briefen an die Brüder und an Freunde in Bonn beschrieb der Komponist über Jahrzehnte die Symptome – vom Klang der Instrumente, den er immer dumpfer wahrnahm, über den Verlust des Sprachverständnisses bis hin zur völligen Ertaubung.
"Es ist für den Hals-Nasen-Ohren-Arzt bewegend, sich mit einer solchen Leidensgeschichte auseinanderzusetzen", sagt Rudolf Hagen. "Denn Beethoven litt an einer progredienten Schwerhörigkeit, die wir heute, mit den Mitteln der modernen Medizin, wirksam hätten bekämpfen können." Hagen hat Hörbeispiele mitgebracht, die den fortschreitende Hörverlust nachvollziehbar machen. In der ersten Sinfonie fällt der Wegfall der hohen Frequenzen auf, die neunte ist fast nur noch ein Grummeln.
Zwei Fragen kristallisieren sich für Moderatorin Evelyn Meining heraus: Wie ist es möglich, solche Meisterwerke zu schaffen, wenn man selbst nichts hört? Und: Was macht das mit einem Musiker, wenn er seine eigenen Schöpfungen nicht mehr hören kann? Der Komponist Robert HP Platz rät, den Schaffensprozess nicht zu romantisieren. Die Vorstellung vom Komponisten, der erst am Instrument spiele und dann die Klänge aufschreibe, sei erst spät entstanden – durch Film und Fotografie.
"Ich kenne nur einen einzigen Komponisten im 20. Jahrhundert, der das tatsächlich gemacht hat. Alle anderen stellen sich vor, was sie schreiben möchten", sagt Platz. Für ihn als Künstler sei das Augenlicht weitaus wichtiger als das Gehör – um Notiertes zu sichten und zu überarbeiten, um Fäden zusammenzuführen. Beethoven habe seine Ideen in Skizzenbüchern notiert und diese dann, so sie verwendbar waren, nahezu musikwissenschaftlich verarbeitet.
Für den Musiker ein ganz normaler Vorgang, für den Laien unbegreifliche Leistung. So wie musikalische Begabung und kreatives Genie auch wissenschaftlich weiterhin kaum erklärt werden können. Das finde alles im Vorderhirn statt, sagt Neurobiologe Michael Sendtner. "Aber damit ist man schon am Schluss, mehr kann man dazu eigentlich gar nicht sagen."
Sendtner selbst hat, bevor er in die Medizin und die Forschung wechselte, am Richard-Strauss-Konservatorium München Klassische Gitarre und Laute studiert. Man dürfe sich Beethovens kreative Arbeit nicht verklärend als qualvolles Ringen vorstellen, sagt Sendtner. Im Gegenteil: "Beethoven war wahrscheinlich ein sehr zufriedener Mensch, wenn er komponiert hat." Er habe wohl Spaß an Perfektion gehabt, am Formen und Tüfteln bis die Werke seiner Vorstellung entsprachen.
Als Musiker litt Beethoven unter dem Hörverlust. Vor allem aber litt als Mensch, als soziales Wesen. In den Salons verstand er immer weniger, was gesprochen wurde. Da er in Wien seine Behinderung möglichst lange geheim hielt, um nicht Klavierschüler und Konzertaufträge zu verlieren, brachte ihm das vermeintlich schroffe Verhalten schnell den Ruf des Sonderlings und Grobians ein. Beethoven fühlte sich missverstanden, isoliert und einsam, erwog sogar, aus dem Leben zu scheiden. Bis ihm sein Arzt Johann Adam Schmidt - geboren in Aub und ausgebildet in Würzburg - riet, sich eine Weile von den Menschen zurückzuziehen.
Im Kurort Heiligenstadt schrieb der 31-Jährige einen Brief an seine Brüder. Nie abgeschickt, wurde er – versiegelt – 1827 in Beethovens Nachlass gefunden und gilt heute unter der Bezeichnung "Heiligenstädter Testament" als eine der wichtigsten, weil persönlichsten Quellen zum Mensch Beethoven. Darin schreibt er etwa: "Wie ein Verbannter muss ich leben." Denn er habe es nicht geschafft, den Menschen zuzurufen: "Sprecht lauter, schreyt, denn ich bin taub."
In Heiligenstadt fand Beethoven indes die Kraft weiterzumachen. "Man muss dem Schicksal in den Rachen greifen", schrieb er an einen Freund. "Das ist etwas, was ihn sehr auszeichnet", sagt Sendtner über Beethoven. "Das ist kein Mensch, der aufgibt."
Weitere Karten für die Live-Konzerte: Dank der Lockerungen sind ab 22. Juni 100 Personen bei Veranstaltungen in geschlossenen Räumen erlaubt. Für die Live-Konzerte des Mozartfests von 24. bis 27. Juni sind deshalb weitere Karten erhältlich: Tel (0931) 37 23 36.