Rund 9000 neue Kinder- und Jugendbücher kommen in Deutschland jährlich auf den Markt. In jüngster Zeit erscheinen immer mehr Titel, in denen Figuren nicht uniform und Familienkonstellationen unterschiedlich sind. "Der Markt hat sich extrem entwickelt", sagt Susanne Baumann, Pressesprecherin beim Arena Verlag in Würzburg.
Alleinerziehende, Regenbogen-Eltern, Patchwork-Familien: Nimmt die Zahl der diversen Kinderbücher zu, weil das Bewusstsein für Diversität wächst? Welche Geschichten und Figuren gibt es heute? Antworten geben Arena-Sprecherin Susanne Baumann und Susanne Götz-Schneck, die 2020 in Würzburg den Verlag Jupitermond gegründet hat.
Susanne Baumann: Familie hat sich in ihrer Zusammensetzung verändert. Das spiegelt sich natürlich auch in Kinderbüchern wider. Und da sich auch unser Blick auf Kindheit verändert hat, werden Kinder in Bilder- und Kinderbüchern mit der Realität konfrontiert, in der sie leben. Sie werden mit ihren eigenen Erfahrungen mitgenommen: So wie du in deiner Familie lebst, so leben auch andere.
Susanne Götz-Schneck: Wir wollen in unseren Büchern die verschiedensten Protagonistinnen und Protagonisten zeigen und für alle Kinder Identifikationsfiguren bieten. Das alles soll aber nicht erzwungen wirken, sondern ganz selbstverständlich so sein.
Götz-Schneck: Nein, das glaube ich nicht. Möglichst viele Kinder sollen sich in den Geschichten wiederfinden und das bedeutet selbstverständlich, dass es neben dem "klassischen" Familienbild auch ganz viele andere Familienmodelle gibt. In einem der kommenden Teile unserer Reihe "Wunderbare Wesen" hat zum Beispiel ein Kind gleichgeschlechtliche Eltern. Das wird auf der Bildebene ersichtlich, spielt für die Geschichte aber gar keine Rolle.
Baumann: Die "Bilderbuchfamilie" war vielleicht ein vermeintliches gesellschaftliches Idealbild von Familie, eine Projektion, die auch über Bücher verbreitet wurde. Die Gesellschaft wird nun realistischer abgebildet, auch in Kinderbüchern.
Baumann: Besonders für Kinderbücher gilt: Kinder wollen sich mit den Figuren identifizieren. Da unsere Gesellschaft bunter wird, ist es wichtig, dass auch das Personal in Kinderbüchern divers abgebildet wird. Bestes Beispiel aus dem Arena Verlag ist die Reihe "Woodwalkers" von Katja Brandis. Hier findet die Mensch- und Tierwelt in ihrer Vielseitigkeit statt.
Götz-Schneck: Diversität in Kinderbüchern ist unglaublich wichtig und stellt eine der wichtigsten Merkmale unserer Bücher dar. Es gibt unheimlich gute Kinderliteratur, die nicht divers ist, wie zum Beispiel die Bücher von Astrid Lindgren oder auch J.K. Rowling. Als ihre Bücher erstmals erschienen, waren Diversität und Sichtbarkeit noch kein großes Thema. Glücklicherweise findet in unserer Gesellschaft ein Wandel statt: Jede und jeder darf so sein, wie er/sie ist. Die unterschiedlichsten Charaktere bekommen eine Stimme und ein Gesicht.
Baumann: Diese Bücher gibt es, zahlreich sogar im Buchhandel. Sie werden verstärkt sichtbar in gut sortierten Büchereien – aber (noch) nicht auf Bestsellerlisten. Und sobald die Bücherkisten in Kitas entstaubt und durch neuere Titel ersetzt werden können auch da, wo sie sehr wichtig sind. Ganz besonders für die Schulbüchereien oder Kindergarten-Bibliotheken sollte die Politik ein Budget zur Verfügung stellen, mit dem der Bestand aktualisiert wird.
Götz-Schneck: In unserer "Wunderbare Wesen"-Reihe geht es um eine Schulklasse, in der ganz unterschiedliche Kinder sind: Da ist zum Beispiel Ella, die im Rollstuhl sitzt. In "Ellas Elfentanz" träumt sie davon, die tanzende Elfe im Schultheater zu spielen. Da wird nicht ihre Behinderung thematisiert, sondern es geht um Träume, Mut und Selbstvertrauen.
Götz-Schneck: Auf jeden Fall. Aber ich gehe noch weiter: Es sollte nicht nur mehr schwarze Protagonistinnen und Protagonisten in Büchern geben, sondern auch mehr südamerikanische, osteuropäische, skandinavische oder asiatische. Im Prinzip die ganze Bandbreite an Menschen unserer Gesellschaft. In unserem Buch "Glitzertage" dreht sich alles um Tayo, einen schwarzen Jungen. Allerdings geht es in dem Buch nicht um das Thema People of Colour, denn nur auf diese Weise findet echte Integration statt: Die Hautfarbe des Kindes spielt keine Rolle.
Baumann: Hier gibt es großen Nachholbedarf. Derzeit sind in nahezu allen Verlagsprogrammen der Kinder- und Jugendliteratur Schwarze Stimmen und Protagonistinnen und Protagonisten sichtbar. "Off the record" von Camryn Garrett ist ein Buch, in dem die junge, couragierte Schwarze Protagonistin Josie – wie auch die Autorin selbst – erfährt, dass ihre Stimme Macht hat, die sie einsetzen kann.
Baumann: Es gibt viele Bücher zu diesem Thema, also Geschichten, die das Leben von Kindern und ihren Familien mit Fluchterfahrung erzählen. Nicht ÜBER ein Thema oder eine Gruppe sollte geschrieben werden, sondern im besten Fall von und mit ihnen als Teil unserer Gesellschaft. Wie zum Beispiel "Geflüchtet", ein autobiografischer Roman des jungen Syrers Abdullah Al-Sayed. 2018 mit begleitendem Unterrichtsmaterial erschienen, ist er weiterhin hochaktuell.
Götz-Schneck: Das Thema Migration ist hochaktuell und wichtig, so dass wir in diesem Frühjahr mit "Ava und die Rückkehr der Farben" über ein Mädchen erzählen, das nach seiner Flucht aus der Heimat neu Fuß fassen muss. Mit Hilfe von ihren feinfühligen und empathischen Freundinnen und Freunden gelingt die Integration.