
Veronika Fleischmann steht im Wohnzimmer ihres Elternhauses in Gützingen und zeigt auf eine Ecke im Wohnzimmer: "Als meine Mutter starb und ich ihr Zimmer ausräumte, fand ich dort ein vergilbtes Gedicht in den Unterlagen zur Ahnenforschung meines Vaters." Zunächst habe sie gedacht, es stamme von ihm. Doch ein Vers ließ sie stutzen: „Nach meiner Frau mir angetraut, wie nach meinem Fleisch und Blute...“. Ihr Vater sei im Zweiten Weltkrieg ledig gewesen, "das konnte also nicht stimmen", erinnert sie sich. Da sei ihr klar geworden: Das Gedicht war von ihrem Großvater Martin Kuhn, der im Ersten Weltkrieg, am Heiligabend 1916, an der Grenze zu Frankreich gefallen war.
"Sonntag auf dem Feld" sei ein Gedicht über den Krieg, die Schrecken und die Hoffnung eines Soldaten an der Front. "Es hat mich sofort tief berührt, weil es so ehrlich und emotional war", sagt Fleischmann. Ihr Großvater, vor 140 Jahren in Gützingen geboren, habe von der Angst, dem Heimweh und der Sehnsucht nach seiner Familie geschrieben. "Mein Opa ist gefallen, als meine Oma mit ihrem dritten Kind schwanger war." Veronika Fleischmanns Vater, benannt nach dem Großvater, war das ungeborene Kind.
Nach dem Tod ihres Mannes heiratete Veronika Fleischmanns Großmutter Anna Kuhn dessen jüngeren Bruder Michael: "So musste sie den Hof nicht verlassen – das war damals so üblich. Aus dieser Ehe sind vier weitere Kinder hervorgegangen, eines ist kurz nach der Geburt gestorben."
Martins Kuhns Gedicht handelt von der Sehnsucht und Hoffnung eines Soldaten an der Front
Ihr Großvater sei ein anständiger und tiefgläubiger Mensch gewesen. Den Glauben, den er gelebt habe, und die Hoffnung auf ein Wiedersehen mit der Familie finde sie insbesondere in zwei Strophen wieder:
Täglich stehn wir auf dem Posten
Keiner kann zur Kirche gehen
Es kann mich das Leben kosten
Herr, lass es doch nicht geschehn
Die Sehnsucht nach der Heimat ist,
was uns dies Leid ertragen lässt.
Wissen, dass auch ihr uns so vermisst.
Zurückzukommen wird ein Fest!
Diese Worte, erzählt sie, spiegeln die Hoffnung auf ein gutes Ende wider, die viele Soldaten hegten – inmitten von Krieg und Zerstörung. Ihr Großvater habe sein ganzes Vertrauen in Gott gesetzt, obwohl er wusste, dass er vielleicht nicht zurückkehren würde.
Die Gabe zum poetischen Schreiben glaubt Fleischmann von ihrem Opa vererbt zu haben
Als Veronika Fleischmann, die selbst in ihrer Jugend Gedichte schrieb, das Gedicht ihres Großvaters fand, habe sie realisiert, dass sie die Gabe, durch Poesie Emotionen zu verarbeiten, von ihm geerbt haben musste. Zwar habe auch ihr Vater Gedichte geschrieben. Aber sein Stil sei weniger emotional gewesen, während der Großvater seine tiefsten Gefühle auf Papier gebracht habe.
Die letzte Strophe des Gedichts enthält für Veronika Fleischmann eine zeitlose Wahrheit, die sich auch heute noch auf die Welt übertragen lasse:
Heiß ist es mir, wie jedem Krieger,
wenn ich der Kugel knapp entrann.
Kein Land wird jemals hier zum Sieger,
diese Wahrheit ist schon lang erkannt
Gerade jetzt, wo der Krieg in der Ukraine und in Gaza so viel Leid verursache, "zeigt es, dass sich an den Gräueln des Krieges nichts geändert hat – auch nach all diesen Jahren."
Für die 59-Jährige sei das Gedicht ihres Großvaters nicht nur eine Verbindung zu ihrer Familiengeschichte. Für sie ist es auch ein Beweis für die tiefe Gläubigkeit, die sich durch die Generationen zieht: "Seit ich das Gedicht meines Opas gefunden habe, denke ich, dass er mir dieses Vertrauen in Gott vererbt hat." Das habe ihren Glauben zusätzlich gestärkt.

Die Gützingerin verarbeitet auch die Erlebnisse ihrer Vorfahren in Gedichten und Bildern
In den letzten Jahren sei Fleischmanns Glaube auf harte Proben gestellt worden, als ihre Mutter pflegebedürftig wurde und ihre Schwägerin an Krebs erkrankte. Es sei eine belastende Zeit gewesen, in der sie Trost im Schreiben fand. Schon als junge Frau habe sie den Wunsch gehabt, einen Gedichtband zu veröffentlichen. Doch sie musste ihrer Mutter auf dem Hof helfen und Schreiben sei keine Option gewesen. 2021 verwirklichte sie schließlich ihren Traum und veröffentlichte ihren ersten Gedichtband "Seelenwärme. Für dich". Darin thematisiert sie ihre Emotionen, ihre Liebe zu Gott und ihre Lebenserfahrungen.
Durch Kunst und Poesie habe sie ihren eigenen Weg gefunden, ihre Erlebnisse und die ihrer Vorfahren zu verarbeiten, sagt Veronika Fleischmann. Ein Bild, das sie gemalt hat, zeigt die letzten Momente ihres Großvaters Martin Kuhn, der durch einen Granatsplittereinschlag getötet wurde. "An dem Tag, als er getroffen wurde, hatte er noch so viel vor. Doch er musste sich plötzlich verabschieden." Das Bild zeigt einen Engel, der ihren Großvater bereits erwartet, während er sich vom Leben löst. Für sie symbolisiert der Engel nicht nur Trost, sondern auch die Verbindung ihres Großvaters zu Gott.
Sie habe ein weiteres Bild zum Gedicht ihres Großvaters gemalt, ein Trauerbild, das die Hoffnung und den Schmerz ihres Großvaters einfängt. "Ich habe das Gedicht meines Opas darübergelegt", sagt sie. Nun möchte sie dieses Bild als hochwertigen Druck auf Leinwand in limitierter Auflage herausbringen. Der Erlös aus dem Verkauf dieser Leinwände soll an Kinder gehen, die vom Krieg betroffen sind: "Es ist mir wichtig, etwas Gutes mit dem zu tun, was mein Opa hinterlassen hat."