Der wahre Held in der Geschichte von der Opferung des Jizchaq
Der wahre Held in der Geschichte von der Opferung des Jizchaq war der Widder,
der nichts wußte von der Abmachung unter den anderen.
Wie hätte er sich auch freiwillig dazu hergeben können, an Jizchaqs Stelle zu sterben!
Über ihn will ich ein Lied singen – ein Lied der Erinnerung
an die gekräuselte Wolle und an seine menschlichen Augen,
an die beiden Hörner, die so still auf seinem Kopf standen, solange er am Leben war,
und aus denen sie Schofarhörner machten nachdem sie ihn geschlachtet hatten,
um ihrem Jubel im Krieg eine Stimme zu geben –
oder dem rohen Jubel in ihrer Freude.
Ich will das letzte Bild in die Erinnerung zurückrufen
wie ein schönes Foto in einer feinen Mode-Zeitschrift:
der junge Mann, sonnengebräunt und verhätschelt, in seinen gefallsüchtigen Kleidern,
und an seiner Seite der Engel, gekleidet in ein langes Gewand aus Seide
– zum festlichen Empfang.
Und sie beide mit leeren Augen
blicken sie auf zwei leere Plätze.
Und hinter ihnen, wie eine bunte Kulisse, der Widder,
festgehalten im Dickicht, vor der Schlachtung.
Und das Dickicht ist sein letzter Freund.
Der Engel ging nach Hause.
Jizchaq ging nach Hause.
Und Avraham ist ebenso wie Gott schon lange gegangen.
Aber der wahre Held in der Geschichte von der Opferung des Jizchaq
– es ist der Widder.
Jehuda Amichai (1982)
Der in Würzburg 1924 als Ludwig Pfeuffer geborene Jehuda Amichai hätte am 3. Mai 2024 seinen 100. Geburtstag gefeiert. 1936 nach Palästina ausgewandert, lebte Amichai bis zu seinem Tod 2000 in Jerusalem. Ihm zu Ehren veröffentlicht die Main-Post unter dem Motto "Amichai lesen!" in loser Folge einige seiner Gedichte in der Übersetzung von Karlheinz Müller.
Jehuda Amichai ist der weltweit bekannteste Dichter und Schriftsteller aus Würzburg. Sein Werk umfasst einen Roman, Theaterstücke, Hörspiele und über 1500 Gedichte. Er wurde mit dem Israel-Preis und dem Würzburger Kulturpreis ausgezeichnet – und war sogar mehrfach für den Nobelpreis nominiert. Die Stadt Würzburg verleiht am 9. Oktober erstmals den mit 15.000 Euro dotierten Jehuda-Amichai-Literaturpreis. Ausgezeichnet wird die Schriftstellerin Barbara Honigmann.
Foto: Petra Winkelhardt/Grafik: Main-Post
Die hier abgedruckten Übersetzungen sind dem Buch "Auf meinem Tisch liegt ein Stein. Festschrift zum 100. Geburtstag von Yehuda Amichai", die im Verlag Königshausen & Neumann erschienen ist (ISBN 978-3-8260-8769-1).
Zur Spenden-Plattform für ein geplantes Amichai-Denkmal in Würzburg gelangt man über den Link wuerzburg-liest.de/kontakt.