Erneut erschüttert ein mutmaßlich rassistischer Anschlag Deutschland. Im Gespräch erklärt der Würzburger Terrorismusexperte Peter Neumann die Hintergründe. Und sieht Parallelen zu früheren Anschlägen. Der 45-Jährige forscht am King's College in London.
Peter Neumann: Das waren sehr unterschiedliche Taten. Der Täter im Fall Lübcke war einer, der seit Jahren in der rechtsextremen Szene unterwegs war. Das war nun in Hanau nicht so. Wir beobachten aber einen Trend: Es gibt in der rechtsextremistischen Szene eine größere Gewaltbereitschaft und eine höhere Mobilisierung für terroristische Anschläge. Wir hatten in Deutschland immer viele Rechtsextreme und rechtsextreme Gewalt, aber das waren sogenannte Hassverbrechen, spontane und unkoordinierte Straftaten. Eine rechtsextremistische terroristische Bewegung hatten wir mit Ausnahme des NSU in den letzten zwei oder drei Jahrzehnten nicht.
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Neumann: Es handelt sich hier offenbar um ein Phänomen, das es zuletzt häufig gab: ein sozial isolierter Einzeltäter, der sich aus verschiedenen verschwörungstheoretischen Versatzstücken im Internet seine eigene Ideologie zusammengebastelt hat. Der Übergang zwischen Tätern mit einer extremistischen, politisch motivierten Ideologie auf der einen und Tätern, die tatsächlich psychisch gestört sind, auf der anderen Seite, ist fließend. Das sehen wir im rechtsextremen, genauso wie im dschihadistischen Bereich. Da wird es in manchen Fällen tatsächlich schwierig, eine klare Grenze zu ziehen und zu sagen: Da hört politisch motivierte Gewalt auf und dort beginnt eine psychische Störung. Es ist auch nicht so, dass sich diese beiden Dinge ausschließen. Im Gegenteil: Wir hatten schon einige Täter mit klaren Persönlichkeitsstörungen, aber trotzdem mit deutlich erkennbarer und bewusster politischer Motivation.
Neumann: Erstens: Was politisch in dem Manifest steht, ist rechts. Zweitens: Nicht jeder, der an Verschwörungstheorien glaubt, ist automatisch psychisch gestört. Und viele dieser Theorien passen ja ins rechtsextreme Weltbild, wo gesagt wird, die Welt wird von dunklen Mächten kontrolliert, von Juden, liberalen Eliten und so weiter. Ich glaube nicht, dass der Täter von Hanau ein knallharter Reichsbürger war, der keinen Pass hatte und von der Bundesrepublik als GmbH sprach, aber einige Versatzstücke erinnern schon an die Reichsbürgerbewegung.
Neumann: Ja und nein. Nehmen Sie die Razzien gegen die mutmaßlich rechtsextreme Terrorzelle vergangene Woche. Das waren Leute, die in traditionellen rechtsextremen Strukturen unterwegs waren. Gefunden und vernetzt haben sie sich aber über virtuelle Subkulturen. Beim Täter von Hanau habe ich jedenfalls nicht das Bild eines Mannes vor mir, der in der lokalen Kameradschaft unterwegs ist. Mein Bild von ihm ist eher das eines sozial Isolierten, der nächtelang YouTube-Videos mit Verschwörungstheorien konsumiert. Ob es wirklich so war, muss man aber erst noch herausfinden.
Neumann: Es ist nicht abgekupfert, aber Motivation und Struktur sind ähnlich. Es ist zum Beispiel so, dass Breivik vor allem sein eigenes Leben nacherzählt. Das ist beim Täter von Hanau ähnlich: In einem großen Teil spricht er über sich selbst und erklärt, warum er Ausländer so sehr hasst. Es gibt aber auch Parallelen zu anderen Fällen.
Neumann: Es ist immer die gleiche Art von Anschlägen: ein Einzeltäter, der wie im Videospiel Leute erschießt. Und diese Attentäter wollen immer ein Publikum haben. Aber genauso wie beim Anschlag auf die Synagoge von Halle oder in anderen Fällen im Ausland – der Anschlag auf zwei Moscheen in Christchurch etwa – hat das der Täter nicht für ein nationales Publikum gemacht, sondern er sieht sich als Teil einer transnationalen Bewegung. Das ist ein neues Element, das es vor zehn Jahren noch nicht gab: Täter, die ein Manifest in Deutsch veröffentlichen, aber auch ein Video auf Englisch machen, weil ihr Publikum nicht nur in Hanau sitzt, sondern auf der ganzen Welt, das ihnen zujubeln – und es ihnen nachmachen soll. Der Anfangspunkt, die Inspiration ist aber Breivik in Norwegen.
Neumann: Da bin ich mir sicher. Für die Wissenschaft ist klar: Eine extreme Polarisierung in der Gesellschaft begünstigt solche Gewalttaten. Und der extreme Diskurs, beispielsweise über Flüchtlinge und Ausländer, kann zwar nicht direkt dafür verantwortlich gemacht werden, aber er schafft den Nährboden dafür, dass solche Täter glauben, sie würden im Namen einer schweigenden Mehrheit handeln.
Neumann: Das ist schwierig zu beantworten. Bis vor zwei, drei Jahren war der islamistische Terrorismus die absolut dominante Gefahr. Da gab es viele Anschlagspläne, die von den Behörden verhindert wurden. Vielleicht ist es so, dass man sich zu sehr darauf gestürzt hat, aber das war ja nicht unbegründet. Daher fände ich es unfair zu sagen, die Behörden hätten schon vor fünf Jahren alles in den Kampf gegen Rechtsextremismus investieren sollen. Denn damals war die Gefahrenlage noch objektiv anders. Das hat sich gedreht. Behörden sind aber wie Tanker: Sie brauchen eine Weile, bis sie sich in die richtige Richtung gedreht haben. Viele Behörden haben vor ein, zwei Jahren begonnen, sich wieder mehr auf Rechtsextremismus zu konzentrieren. Leider braucht es aber auch erst solche Vorfälle, damit auch ein politischer Wille existiert.