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WÜRZBURG
Wie wird man Terrorist, Herr Neumann?
Radikalisierung: In seinem neuen Buch erklärt Peter Neumann, wie Menschen zu gewalttätigen Extremisten werden. Die Hintergründe eines Falls sind für den Terrorismusexperten aber rätselhaft: der Anschlag von Würzburg.
Benjamin Stahl
 |  aktualisiert: 07.04.2020 10:59 Uhr

Axt-Angriff in Würzburg, Bombenexplosion in Ansbach, Lkw-Terror in Nizza, ein getöteter Priester in einer Kirche in Saint-Étienne-du-Rouvray und nun der gefasste mutmaßliche Terrorist von Chemnitz, der sich am Mittwoch das Leben nahm. Terrorismus ist das Thema, das Europa spätestens seit den Anschlägen in Paris im November 2015 nicht loslässt. In diesem Jahr kam es endgültig auch in Deutschland an. Die Täter sind gebürtige Europäer oder Flüchtlinge. Gleichzeitig reisen Menschen ohne muslimischen Hintergrund zu Tausenden aus Europa in den Kampf nach Syrien. Was treibt Menschen in den Dschihadismus? In den „Kampf gegen Ungläubige“ in Syrien oder in Europa? Terrorismusexperte Peter Neumann erklärt in seinem neuen Buch, wie sich Menschen radikalisieren.

Frage: In Ihrem neuen Buch vertreten Sie die These, ob jemand zum Terroristen wird – sich also radikalisiert –, kann man nicht voraussagen. Angesichts der zurückliegenden Wochen und Monate klingt das ernüchternd.

Peter Neumann: Es gibt tatsächlich keine Blaupause für eine Radikalisierung. Man kann lediglich Risikofaktoren bestimmen. Ich beschreibe dabei fünf Bausteine. Keiner dieser Bausteine erklärt für sich allein genommen, warum jemand zum Extremisten wird. Zusammengenommen können sie aber recht gut erklären, was in Radikalisierungsverläufen passiert.

Welche Bausteine sind das?

Neumann: Zuerst gibt es eine Frustration als Voraussetzung dafür, dass sich jemand für eine Ideologie öffnet. Zweitens einen Drang, also Bedürfnisse, die diese Ideologie befriedigt. Natürlich braucht es die Ideologie selbst, die diesen Frust und diese Bedürfnisse in die Richtung eines politischen oder religiösen Projekts lenkt. Und in den allermeisten Fällen findet Radikalisierung nicht alleine statt, sondern hat mit Beeinflussung durch andere Menschen zu tun. Gewalt ist dann oft das Resultat von erfahrener oder erlebter Gewalt, die andere verübt haben. Das sieht man etwa in Bürgerkriegen. Dort kommt es zu Radikalisierungen, weil ein Freund oder ein Familienmitglied umgekommen ist. Da spielt dann Revanche eine Rolle.

Sie gehen nicht nur auf Islamismus ein, sondern auch auf Links- und Rechtsextremismus. Sie schreiben etwa über den RAF-Mitbegründer Andreas Baader: „Hätte es damals den Islamischen Staat gegeben, wer weiß, ob er sich stattdessen einen langen Bart hätte wachsen lassen und mit einem gestohlenen Sportwagen nach Rakka gerast wäre?“ Ist die Frage, welche Ideologie hinter einer Radikalisierung steckt, unerheblich?

Neumann: Das ist eine große Debatte in der Forschung. Es gibt Kollegen, die sagen, die Ideologie ist austauschbar. Sie glauben, Leute die jetzt zu Dschihadisten werden, wären in den 1970er-Jahren zu Marxisten geworden. So einfach ist es zwar nicht: Ideologien sprechen immer auch gewisse Zielgruppen an. Aber extremistische Ideologien haben auch Gemeinsamkeiten. Sie befriedigen Bedürfnisse nach Abenteuer und Gewaltfantasien, bieten Struktur und vereinfachen Dinge. Aber es gibt auch Fälle, wo sich Leute von Ideologien angesprochen gefühlt haben, die eigentlich gar nicht zu ihnen gepasst haben. Einfach, weil es die dominante Gegenkultur war.

Sie sprechen immer von einem Verlauf der Radikalisierung. Bei dem Afghanen, der in Würzburg den Anschlag verübt hat, war oft von Blitzradikalisierung die Rede. Wie kurz kann so ein Prozess sein?

Neumann: Man ging immer davon aus, dass Radikalisierungsverläufe in der Regel sehr lange – teils jahrelange – Prozesse sind. Mittlerweile zeigt sich, dass sich die Zeitspanne verkürzt hat. Das hängt mit mehreren Faktoren zusammen: Das Internet hat es vereinfacht, Kontakt zu entsprechenden Milieus aufzunehmen. Außerdem rekrutieren sich terroristische Gruppen heute viel mehr aus der kriminellen Szene als früher. Gewalt gegen andere ist für solche Leute oft keine Hürde mehr, weil sie häufig schon gewalttätig sind und sich nur noch die passende Ideologie suchen, um diese Gewalt zu legitimieren. Bei dem Begriff Blitzradikalisierung bin ich aber nach wie vor vorsichtig. Eine Radikalisierung innerhalb von Wochen ist nach wie vor die Ausnahme.

Wie würden Sie den Würzburger Anschlag aus heutiger Sicht dann bewerten?

Neumann: Würzburg ist unter all den Anschlägen im Sommer noch immer ein Sonderfall. Und der unklarste. Es ist immer noch nicht wirklich viel bekannt. Basierend auf den Informationen, die mir zur Verfügung stehen, verstehe ich auch noch immer nicht, was wirklich passiert ist. Sicher ist, dass in diesem Fall das Internet eine wichtige Rolle gespielt hat und der Ablauf der Radikalisierung schneller war als häufig angenommen. Neu war auch die Struktur des Anschlags.

Inwiefern?

Neumann: Wir hatten es hier sozusagen mit einem ferngesteuerten einsamen Wolf zu tun – auch wenn diese Bezeichnung widersprüchlich ist. Der Täter hat sich allein oder über das Internet radikalisiert und wurde dann über einen Messenger-Dienst in Echtzeit aus Syrien heraus gesteuert. Er wurde Schritt für Schritt bis zum Moment das Anschlags angeleitet und motiviert. Das war übrigens auch in Ansbach der Fall und ich gehe davon aus, dass wir das öfter erleben werden. Ich weiß von weiteren Fällen, bei denen so etwas zumindest versucht wurde.

Was die Radikalisierung angeht, war Ansbach allerdings ein völlig anderes Szenario.

Neumann: Richtig. Da schien es so zu sein, dass der Täter bereits in Syrien gekämpft hat. Möglicherweise sogar für den „Islamischen Staat“. Es ist wahrscheinlich, dass hier der Beginn der Radikalisierung in Syrien zu suchen ist. Da ist etwas passiert, was wir auch noch nicht konkret wissen. Der Auslöser für den Anschlag kam aber wohl in Deutschland – möglicherweise war es die bevorstehende Abschiebung.

Welche Rolle spielt Religion in Radikalisierungsverläufen?

Neumann: Religion hat zunächst einmal die Funktion wie jede andere Ideologie. Aber Religionen sind problematischer. Denn sie bieten nicht nur Antworten auf Probleme und Frustrationen, sondern bringen auch ein Heilsversprechen: „Wenn du dich in die Luft sprengst, kommst du in den Himmel.“ Das bieten Marxisten oder Nazis nicht. Religion an sich ist nicht das Problem, aber Religion hat problematische Aspekte.

Warum berufen sich aber Terroristen vor allem auf den Islam? Ein Heilsversprechen bietet das Christentum ja auch.

Neumann: Alle Religionen haben zu verschiedenen Zeitpunkten in der Geschichte grausame Dinge hervorgebracht. Sklaverei, Enthauptungen und so weiter. Da steht der Islam nicht alleine. Deswegen stellt sich für mich nicht die Frage, „Warum der Islam?“. Sondern: „Warum der Islam gerade jetzt?“

Und haben Sie eine Antwort darauf?

Neumann: Die muslimische Welt ist in einer Krise. Die Wirtschaft der Länder dort stagniert, gleichzeitig gibt es sehr viele junge Männer ohne Arbeit. Im Prinzip funktionieren die Gesellschaften dort nicht. Man hat alle säkularen Systeme schon ausprobiert: Ob Marxismus, ob Kapitalismus – alle importierten Systeme haben nicht funktioniert. Jetzt soll der Islam die Lösung sein – als Abgrenzung zum Westen und als einzige authentische Ideologie. Zweitens gibt es auch im Westen eine Krise des Islam. Sie besteht daraus, dass wir in europäischen Gesellschaften Muslime haben, deren Eltern oder Großeltern einst nach Europa gekommen sind, aber nach wie vor schlecht integriert sind. Sie zählen oft zu den Verlierern und sehen keine Perspektive.

Aus dieser Frustration fragen sie sich, was sie vom Rest der Gesellschaft unterscheidet. Die Antwort: das Islamischsein. Das wird zur Quelle der Identität und zum Ventil, die eigene Frustration auszudrücken.

Noch einmal konkret gefragt: Ist der Islam der Grund für den heutigen Terrorismus?

Neumann: Im Islam ist eine Legitimation für Gewalt – auch für diese terroristische Art von Gewalt – angelegt. Ich gehöre nicht zu denen, die sagen, der Islam ist nur Frieden. Aber Gewalt ist auch im Christentum angelegt, wenn man die Bibel so interpretieren möchte. Insofern hat Terrorismus etwas mit dem Islam zu tun. Man muss aber vorsichtig sein: Die Art von Islam, die von Dschihadisten praktiziert wird, ist nicht die vorherrschende Interpretation des Islam. Wir wissen auch vom Christentum, dass es sehr unterschiedlich interpretiert werden kann. Genauso wenig, wie der Ku-Klux-Klan „das“ Christentum ist, ist der IS „der“ Islam. Der IS repräsentiert eine sehr extreme Interpretation des Salafismus, der wiederum eine sehr extreme Interpretation des Islam ist. Der IS ist im Prinzip die Randgruppe einer Randgruppe. Das macht sie islamistisch, aber den Islam nicht per se terroristisch.

Sie beschreiben, wie Osama bin Laden teils auf über 30 Seiten mit komplizierten theologischen Argumentationen Anschläge zu legitimieren versuchte. Viele haben das nicht verstanden oder gar nicht gelesen. Der IS verkürzt das alles und arbeitet mit einfacheren Botschaften. Ist der IS theologisch gesehen weniger islamisch als El Kaida?

Neumann: Ja. Er ist nicht weniger islamisch, aber weniger interessiert an theologischen Debatten und daran, die eigene Position islamisch legitim zu machen. Vor 15, 20 Jahren hat El Kaida zu jedem Anschlag ein Buch veröffentlicht, in dem genau erklärt wurde, wie das islamisch legitim sein sollte. Damit wollte man auch Salafisten überzeugen, die El Kaida kritisch sahen. Der IS unternimmt dagegen noch nicht einmal den Versuch, eine intellektuelle Debatte anzustoßen. In der Regel gibt es eine knappe Erklärung und ein Video. Das ist maßgeschneidert für eine Generation, die gar kein Interesse daran hat, sich tiefgehend mit Religion zu beschäftigen. Diese Leute suchen nach einer vermeintlichen Legitimation, ihre Frustration mit Gewalt auszudrücken.

Demnach unterscheiden sich die Dschihadisten von früher mit den Dschihadisten von heute?

Neumann: Man sieht das an den Leuten, die die Terrorgruppen anzogen beziehungsweise jetzt anziehen. Die Quintessenz der El-Kaida-Generation waren die Studenten aus Hamburg, die die Zelle angeführt haben. Verschrobene Intellektuelle, die nächtelang über Religion diskutiert haben. Jetzt ist eine Mehrheit der Leute, die aus dem Westen nach Syrien zum Kampf reisen, vorbestraft. Viele haben einen gewalttätigen Hintergrund, keine Arbeit und sind nicht integriert.

Warum werden so viele europäische Konvertiten Terroristen?

Neumann: Weil sie häufig nicht zum Islam konvertieren, sondern direkt zum Dschihadismus. Die Motivationslage ist ähnlich wie bei vielen der frustrierten Muslime, die sich abgehängt fühlen. Sie suchen nach Antworten, nach Struktur und Gemeinschaft. Es ist zudem einfach, einen Konvertiten davon zu überzeugen, dass der Dschihadismus der echte Islam ist. Weil keine kulturelle Grundierung existiert und bei vielen Konvertiten der Wunsch besteht, nach einem Leben in der Sünde jetzt 120-prozentiger Muslim zu sein. Das passt zum Salafismus. Und der IS nimmt jeden. Man muss nicht viel über den Islam wissen, solange man Treue schwört und die Regeln des IS befolgt.

Nun erleben wir, dass auch unter den Flüchtlingen Terroristen sind. Ist auch das ein Phänomen, das in Europa hausgemacht ist?

Neumann: Dass sich Flüchtlinge hier radikalisieren, könnte in einigen Jahren ein Thema werden, wenn sie nicht wirklich hier Fuß fassen. Es ist aber schon jetzt ein größeres Thema, als ich vermutet hatte. Mich hat es überrascht, wie schnell es dazu kam, dass sich Flüchtlinge radikalisieren. Allerdings sind das vor allem minderjährige unbegleitete Flüchtlinge, die sich verloren fühlen und nach Orientierung suchen. Das öffnet sie für die Botschaft der Salafisten. Das bestätigen mir auch Verfassungsschützer.

Müsste man junge unbegleitete Flüchtlinge besser betreuen?

Neumann: Man sollte sich mehr Gedanken machen, wie man diesen Menschen besser helfen kann, damit es gar nicht zu einer Radikalisierung kommt. Aber auch auf Seiten der Sicherheitsbehörden sollte man mehr im Blick haben, was da passiert. Und Verantwortliche in Flüchtlingsunterkünften müssten geschult werden, um Anzeichen für eine Radikalisierung erkennen zu können.

Zur Person

Peter Neumann aus Würzburg gilt als einer der renommiertesten Terrorismusexperten der Welt. Der 41-Jährige ist Professor am Londoner King's College und leitet dort das „Internationale Zentrum zum Studium von Radikalisierung“. Sein neues Buch „Der Terror ist unter uns: Dschihadismus, Radikalisierung und Terrorismus in Europa“ erscheint am 14. Oktober. Es beruht auf 20 Jahren wissenschaftlicher Auseinandersetzung mit dem Thema und bringt die verschiedenen Ansätze, Methoden und Erkenntnisse der aktuellen Terrorismusforschung zusammen. Neumann nimmt das gesamte Spektrum extremistischer Bedrohung in Europa in den Blick; dazu zählt er neben den neuen Dschihadisten auch Separatisten, Rechts- und Linksextreme. FOTO: dpa
 
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