Alles befindet sich in einer imaginären Vitrine. Sein Schmerz. Die schlaflosen Nächte. Die tiefen Täler. Die seelischen Wunden und Narben durch den sexuellen Missbrauch. Die dunklen Momente, in denen er nicht wusste, ob er noch leben möchte. "Es ist omnipräsent, ich spüre den Einfluss, aber es hat keine Macht mehr über mich", erzählt Kai Christian Moritz, "ich kann es anschauen."
Seit wenigen Tagen liegt der Untersuchungsbericht vor. Der Limburger Bischof Georg Bätzing hatte ihn zu Jahresbeginn in Auftrag gegeben. Dieses Schriftstück kann der in Würzburg lebende Schauspieler ohne gläsernes Schutzschild an sich ran lassen. In dieser Dokumentation stellt der frühere Präsident des Limburger Landgerichts Ralph Gatzka fest: Moritz‘ Fall von schwerem sexuellem Missbrauch durch einen Priester wurde durch das Bistum Limburg vertuscht.
Der Bericht ist auf der Internetseite des Bistums abrufbar. Ebenso eine Erklärung des ehemaligen Personaldezernenten Helmut Wanka. Er verhinderte, dass Hinweise über den Missbrauch in der Personalakte des Priesters aufgenommen wurden und eine Strafanzeige bei der Staatsanwaltschaft gestellt wurde. Wanka entschuldigt sich in der Ich-Form.
Kai Christian Moritz sagt: "Das war mir wichtig, weil er damit persönliche Verantwortung übernimmt." Freude, Erleichterung, Stolz spiegeln sich in seinem Gesicht wider. Es gibt keine Zweifel mehr an seiner Glaubwürdigkeit. "Die Schlachten, die ich gewinne, sind mehr geworden." Der 43-Jährige erhofft sich eine schonungslose Aufarbeitung auch für andere Betroffene. Ebenso, dass sich die Strukturen der Kirche endlich ändern. Er empfindet sie als eine "zutiefst antiquierte, antidemokratische Organisation".
Moritz hat in den vergangenen Monaten seine Geschichte in mehreren Medien öffentlich gemacht. "Ich rede deshalb so offen darüber, weil ich andere Betroffene ermutigen möchte, ebenfalls ihr Schweigen zu brechen." Er weiß: Das erfordert Mut.
Er ist bereit für ein Gespräch mit dieser Redaktion. Er schlägt dafür eine Würzburger Kaffeebar vor. Es ist laut und quirlig. Nur die Menschen, die sich gegenübersitzen, verstehen, was der Gesprächspartner sagt. Die Worte bleiben am kleinen Tisch. Die Bar ist trotz aller Öffentlichkeit ein geschützter Ort. Diese Umgebung hat Moritz gewählt, um von sich zu erzählen. Von früher. Und wie es ihm heute geht. Er bekennt: "Auch wenn ich viel darüber rede, es fällt mir nicht leicht." Der über die Grenzen Würzburgs hinaus bekannte und mit Preisen ausgezeichnete Schauspieler schlüpft in keine Rolle. Er spricht über sich.
„Ich war ein Sexualobjekt“, sagt er, "es hat lange gedauert zu einem Subjekt mit eigener Würde zu werden. Das war nicht einfach." Acht Jahre lang wurde er von dem Priester missbraucht. Nach dem Tod seiner Mutter war der Zehnjährige im Sommer 1986 in die Obhut des Geistlichen gekommen, der auf Vermittlung des Bistums Limburg zu seinen Vormund wurde. Es ist sein Cousin. Moritz nennt ihn Pflegevater.
"Ich war entwurzelt. Alles in mir war auf null gesetzt." Der Pflegevater erscheint dem traumatisierten Jungen als Rettung. "Du bist etwas ganz Besonderes. Alles ist nur zwischen uns. Deshalb erzählt man das nicht." Diese Sätze nach den ersten körperlichen Annäherungen wirken auf das Kind – auf unterschiedliche Art.
Der Täter schirmt sein Opfer immer mehr ab, behält so die Kontrolle.
"Ich fühlte mich wertgeschätzt, war stolz auf das Geheimnis mit dem über 30 Jahre älteren Erwachsenen." Moritz beschleicht jedoch auch ein komisches Gefühl, dass da etwas zwischen ihnen geschieht, was nicht richtig ist. "Ich versuchte mich zu wehren, sagte zu ihm, als es immer schlimmer wurde, dass er mir weh tut und ich das nicht möchte." Der Pflegevater habe es ignoriert.
Der Junge wurde angehimmelt, überhöht. "Im Gottesdienst durfte ich früh das Rauchfass tragen und Lektorendienste übernehmen. Wir hatten einen Hund, einen großen Garten. Die Kirche war mein Spielplatz. Das war toll", erzählt Moritz über seine Zeit als begünstigter "Pfarrersohn". Damit bindet der Geistliche das Kind an sich. Es wird von den anderen Messdienern ausgegrenzt. Der Priester schirmt ihn immer mehr ab, behält so die Kontrolle.
Moritz ist heute klar: "Ich war seelisch gebunden." Er kann über seine Situation von damals reflektieren. "Ich habe Männlichkeit über diese pervertierte Art kennengelernt. Lange wusste ich nicht, ob ich Männlein oder Weiblein bin."
Als er in die Pubertät kommt und sich für Mädchen interessiert, reagiert sein Pflegevater mit "hollywoodreifen Eifersuchtsszenen", erzählt Moritz. Er habe von Liebe geredet, gleichzeitig gedroht: "Ohne mich schaffst du es doch nicht." Kai Christian Moritz schafft es nach Jahren." Ohne mich bist du nichts." Auch diese vernichtenden Worte des Priesters kann er nach und nach abschütteln.
Als er 21 Jahre alt ist, vertraut sich Kai Christian Moritz einer Psychologin an
Sein neues Leben beginnt mit der Flucht aus dem Pfarrhaus. Als Moritz volljährig ist, geht er nach München. Er will Priester werden. Daraus wird nichts. "Um Seelsorge ging es mir nicht. Ich wollte lediglich die schönen Gewänder tragen und dieselbe Macht ausüben, die ich selbst erlebt habe - auch gegenüber Frauen. Ich habe aber gelernt, dass es falsch war."
Erst mit der Schauspielerei kommt er bei sich an und kehrt zu seinen Wurzeln zurück. "Meine Mutter hatte viel Talent, wurde sofort an der renommierten Folkwang Schule in Essen aufgenommen." Sie sagte ab, studierte Mathematik und Physik. Aber die Liebe zum Theater gab sie an ihren Sohn weiter. Durch den Missbrauch bleiben Moritz lange Zeit nur Erinnerungen.
An einem Tiefpunkt angelangt, vertraut er sich 1997, da ist er 21, erstmals einer Freundin seiner verstorbenen Mutter an. Sie ist Psychologin und handelt sofort, konfrontiert den Priester mit seinem Verhalten, fordert ihn auf, "sich umgehend seinen Vorgesetzten zu erklären, denen die Taten einzugestehen und sich aus der Pfarrseelsorge zurückzuziehen", so steht im Untersuchungsbericht. Personaldezernent Wanka trifft sich mit Moritz und dem Priester. Es findet an einem neutralen Ort statt. Der Priester räumt den Missbrauch ein.
Moritz beginnt eine Therapie. Der Priester bittet um eine Auszeit im Recollectio Haus der Abtei Münsterschwarzach im Landkreis Kitzingen. Das ist eigentlich kein Ort für Missbrauchstäter, sondern gedacht für Priester, Ordensangehörige sowie Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Sie sollen dort die Möglichkeit erhalten, "sich körperlich, psychisch und geistlich-spirituell zu sammeln und für die pastorale Rolle und Aufgabe zu stärken", so die Beschreibung auf der Internet-Seite. Er bleibt dort drei Monate, kehrt anschließend ins Pfarrhaus zurück, "ohne dass Vorkehrungen getroffen wurden, um der Wiederholung von Missbrauchstaten entgegenzuwirken", heißt es im Bericht.
Der Priester verbringt heute seinen Ruhestand im Bistum Bamberg. Strafrechtlich kann er nicht mehr verurteilt werden. Seine Taten sind verjährt. Hätte der Limburger Personalchef Wanka die Strafanzeige vor Jahren nicht verhindert, wäre das anders. Das kirchenrechtliche Verfahren läuft noch.
Vor einem Jahr machte Kai Christian Moritz seinen Missbrauch öffentlich
Moritz trifft seinen Peiniger noch einmal – unter Aufsicht. Das ist viele Jahre her. Es geht um Aussöhnung. "Meinem Pflegevater werde ich bis an mein Lebensende nicht vergeben. Der Missbrauch ist wie ein Brandmal, das man nicht loswird." Moritz hält kurz inne, atmet tief durch, sagt: "Er sieht sich selbst als Opfer und wirft mir Undankbarkeit vor. Er bereut nichts."
Vor fast genau einem Jahr macht Kai Christian Moritz bei der Podiumsdiskussion mit Bischof Franz Jung im Würzburger Burkardushaus dann seinen Missbrauch öffentlich. Damals als Zuhörer. Im Februar ist er wieder dort, steht aber dieses Mal am Rednerpult bei der Tagung "Nicht ausweichen", organisiert von den beiden Theologen und Universitätsprofessoren Matthias Reményi aus Würzburg und Thomas Schärtl aus Regensburg. Kai Christian Moritz sagt damals: "Kein Opfer bin ich, sondern ein zutiefst Geprägter oder, wie ein anderer Betroffener es so folgerichtig formulierte, ein Überlebender."
Literaturtipp: Im Pustet-Verlag ist vor wenigen Tagen das Buch zur Würzburger Tagung "Nicht ausweichen. Theologie angesichts der Missbrauchskrise erschienen" (276 Seiten, 24,95 Euro); Herausgeber sind Matthias Reményi und Thomas Schärtl. Darin sind alle Reden abgedruckt: unter anderem von Kai Christian Moritz, vom Theologen Wunibald Müller, von der Journalistin Christiane Florin oder von Essens Generalvikar Klaus Pfeffer, zudem neue Beiträge.
Ich wünsche ihm, dass er durchhält, für sich und die vielen anderen, denen Ähnliches passiert ist.