Das Podiumsgespräch am Donnerstag im Würzburger Burkardushaus war länger als geplant. Auch hinterher gab es an diesem Domschulabend noch viel Bedarf über "Sexuelle Gewalt in der katholischen Kirche" zu sprechen. Erstmals fand dazu in dieser Form in einer bayerischen Diözese nach Vorstellung der Missbrauchsstudie eine Diskussion mit Betroffenen statt.
Unter den rund 120 Anwesenden waren mehrere Betroffene. Sie suchten auch nach der Veranstaltung den Kontakt zu den Teilnehmern des Podiums - zu Bischof Franz Jung, zu dem offiziell eingeladenen Betroffenen Godehard Herzberger, zur Ex-Ministerin Christine Bergmann, Mitglied der "Unabhängigen Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs", und zu Hans-Joachim Salize aus Mannheim.
Professor Salize gehörte zu den Autoren der Missbrauchsstudie (MHG-Studie), die von den Deutschen Bischöfen in Auftrag gegeben worden war. Er stellte die "wichtigsten Ergebnisse"vor: 1670 Beschuldigte, überwiegend Priester; 3677 Betroffene. Kernaussagen waren etwa: Das sei nur die Spitze des Eisbergs. "Der Schutz von Institution und Tätern hatte Vorrang vor den Interessen der Betroffenen." Das Problem Missbrauch halte weiter an, weitere Aufklärung sei nötig.
Bischof Jung: Bistum übergibt Akten an die Staatsanwaltschaft
Bischof Jung gab jüngste Maßnahmen bekannt. Das Bistum werde die kirchlichen Akten über Missbrauchsvorwürfe gegenüber Klerikern der Staatsanwaltschaft übergeben - vorrangig zunächst Dokumente seit 1970. Der Grund sei Eile: Diese Verdachtsfälle könnten noch nicht verjährt sein. Zudem würden Akten aus dem Zeitraum von 1945 bis 2000, die noch nicht in der MHG-Studie ausgewertet wurden, von einer externen Anwaltskanzlei gesichtet.
"Mit dieser Entscheidung zeigt Bischof Jung - als einer der ersten - absoluten Willen zur Strafverfolgung des Verbrechens der sexualisierten Gewalt", meinte Magnus Lux aus Schonungen (Lkr. Schweinfurt) von der Kirchenvolksbewegung "Wir sind Kirche". Die Bischöfe würden sich aus dem klerikalen Sumpf nicht selbst herausziehen können. "Verbrechen gehören in die Hand des Staatsanwalts", so Lux.
Für Alexandra Wolf, eine Betroffene, war die Aktenuntersuchung die "wichtigste Neuigkeit", besonders, dass auch Verdachtsfälle in den Kilianeen, den kirchlichen Internaten in Würzburg, Miltenberg und Bad Königshofen gesichtet werden. Gut fand sie, dass respektvoll miteinander diskutiert wurde. "Das ist ein großer Fortschritt zu den vergangenen Jahren. Da wollte keiner mit mir sprechen." Sie beschuldigteinen Geistlichen der Diözese Würzburg.
Godehard Herzberger schildert Ohnmacht der Betroffenen
Godehard Herzberger sprach über die Auswirkungen der erlittenen sexuellen Gewalt in einem Internat der Pallotiner. Er beschuldigt nicht nur eine Person, den Präfekten, der seine Seele stückchenweise abgetötet hätte. Vielmehr all die, die den Missbrauch ermöglicht hätten - durch Schweigen oder Untätigkeit. Er schilderte seine Ohnmacht. "Man kann sich nicht wehren, kann nicht rufen, und wenn man ruft, kommt niemand." Dennoch fand er den Mut weiterzuleben.
Herzberger forderte, dass Täter für die Folgen, die sie bei Betroffenen anrichten, gerade stehen müssen. Durch den lebenslangen Schaden würden viele im Leben scheitern. Er sprach noch ein spezielles Problem an: "Darf das überhaupt verjähren?" Das sei ein juristisches schwieriges Thema, so Bergmann.
Bischof Franz Jung, der Mitglied des wissenschaftlichen Beirats der Missbrauchsstudie war, gab zu, dass es eine "fatale Fehleinschätzung" der Kirche gewesen sei. "Es ist kein bedauerliches Fehlverhalten Einzelner gewesen." Er lobte den Mut der Betroffenen. Durch sie sei das Thema wahrgenommen worden. Darauf angesprochen, was konkret in Würzburg unternommen wird, verwies er unter anderen erneut auf die Zusammenarbeit mit der Staatsanwaltschaft. Auch soll es künftig eine einheitliche Personalaktenführung geben.
Ex-Ministerin Bergmann: "Wir sind noch ganz am Anfang."
"Reicht das?", fragte Moderator Matthias Drobinski (Süddeutsche Zeitung). "Nein!", lautete die Antwort von Christine Bergmann. "Wir sind noch ganz am Anfang." Sie fordert eine unabhängige Aufarbeitung sowie eine Unterstützung, die so sein müsse, "dass es von Betroffenen angenommen werden kann". Wie gehe man mit denen um, die von dem Missbrauch gewusst haben, aber selbst keine Täter waren? Sie hält einen "wirklichen Aufarbeitungsprozess" für nötig.
"Ja, ist angekommen", sagte Bischof Jung. Er betonte aber, dass es keine schnellen Lösungen gebe. Sein Resümee: "Es gibt keine Sicherheit."
Die Betroffene Patricia R., die aus Rheinland-Pfalz angereist war, zeigte sich vom Verhalten des Bischofs überrascht. Sie habe ein gutes Grundgefühl. Seit zwölf Jahren kämpft sie "vergeblich" um die Aufarbeitung ihres Missbrauchs in einem Kinderheim durch Schwestern eines Würzburger Ordens sowie von Geistlichen. Sie sei körperlich und sexuell missbraucht worden, zudem vermutet sie Medikamentenmissbrauch. "Die letzte Zeitzeugin des Ordens verstarb im April dieses Jahres", sagt sie. Dennoch will Patricia R. weiterkämpfen.
Nicht zufrieden ist der Betroffene Bernhard Rasche. "Die Kirche hat ihre Glaubwürdigkeit gegenüber Opfern verloren", so der katholische Theologe. Er hat zusammen mit Alexandra Wolf vor dem Podiumsgespräch zur kfd-Aktion "MachtLichtAn" beziehungsweise zu einer Klage-Andachteingeladen.